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Die politische Ökonomie der Allergien – wichtige Information

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Die politische Ökonomie der Allergien
Im gesamten 20. Jahrhundert haben Allergiepatienten zur Linderung ihrer Leiden viele freiverkäufliche und rezeptpflichtige Heilmittel angewandt. Wie Berichte des Royal College of Physicians jedoch erkennen lassen, wurden britische Patienten in letzter Zeit immer aufgeschlossener, alternative Heilpraktiker zu konsultieren und mit einem breiter werdenden Angebot unkonventioneller Behandlungsmethoden zu experimentieren. Medizinzeitschriften und Medien berichteten regelmäßig über Ergebnisse klinischer Versuche aus aller Welt und Erfahrungen von Patienten mit alternativen Heilmitteln, mit Homöopathie, Akupunktur, ayurvedischen Mitteln, Iridologie, Hypnose und Phytomedizin – einschließlich Pestwurz -, mit regionalem Honig oder Bienenpollen und Jamswurzel. Zusätzlich wurden in vielen Industrie- und Entwicklungs-ländern verschiedene „natürliche“ Ernährungsweisen populär, von der vom Naturarzt Harry Benjamin Mitte des Jahrhunderts befürworteten „Naturkur“ über die dianetischen Programme der Scientologen aus der Nachkriegszeit bis hin zur Makrobiotik. Patienten und Klinikärzte in aller Welt interessierten sich auch für die Buteyko-Methode zur Asthmabehandlung, die einen radikal anderen Behandlungsansatz vertrat, auch wenn sie mit dem eher traditionellen Interesse an Physiotherapie und Sport bei Asthma übereinstimmte.

Konstantin Buteyko, ein russischer Krankenhausarzt, hatte in den 1950er-Jahren behauptet, Hyperventilation und ein geringerer Kohlendioxidgehalt wären für die Asthmasymptome verantwortlich. Daher empfahl er eine „revolutionäre Behandlungsmethode“ für Asthma, die das Atemverhalten von Patienten umschulen wollte. Diese alternative Behandlungsart ohne Medikamente wurde in Russland und Australien in Versuchsreihen ausgewertet und erfuhr in den 1990er-Jahren beträchtliches Medieninteresse und Zuspruch durch die Öffentlichkeit.

Mit einigen wenigen Ausnahmen wurden die alternativen Ansätze zur Diagnose und Behandlung von allergischen Krankheiten von konventionellen Klinikern abgelehnt. Obwohl einige von ihnen anerkannten, dass sich in manchen Fällen (am deutlichsten bei der Phytomedizin zur Ekzembehandlung) eine Wirkung nachweisen ließ, betonten sie gleichzeitig die Unzuverlässigkeit unkonventioneller Diagnosetests, das Fehlen adäquater klinischer Versuchsreihen für alternative Heilmittel, potenzielle Risiken nicht gesetzlich geregelter Therapien, eine schwankende Qualität der hergestellten Präparate und die Kosten vieler alternativer Behandlungsmethoden. Natürlich, das mussten einige alternative Therapeuten unbedingt hervorheben, waren die Auseinandersetzungen über relative Vorzüge alternativer und konventioneller Behandlungsmethoden allergischer Krankheiten (und vieler anderer Leiden) von politischen und fachlichen als auch von evidenziellen Streitfragen geprägt. Allergieansätze, die moderne Prozesse von Industrie und Han-del anklagten und eine Behandlung ohne Medikamente befürworteten, bedrohten nicht nur Honorare und Status konventioneller Ärzte, die in vielen Ländern immer noch um Anerkennung und Lohn kämpften, sondern stellten auch für die Profite der Pharma-, Reinigungsmittel-, Kosmetik- und Nahrungsmittelindustrie eine Gefahr dar.

Diese politischen und beruflichen Spannungen traten besonders im späten 20. Jahrhundert in den Debatten über die klinische Ökologie und Umweltmedizin zutage, einer Allergieauffassung, die erstmals in den 1950er- und 60er-Jahren von dem amerikanischen Allergologen Theron G. Randolph vertreten worden war. Randolph hatte seinen Abschluss in Medizin in den 1930er-Jahren in Michigan gemacht und in Wisconsin und Michigan als Allergiearzt gearbeitet, bevor er 1944 in Chicago eine Privatpraxis eröffnete. Zunehmend davon überzeugt, dass Nahrungsmittelallergien der Hauptgrund für viele Krankheiten wären, forderte er von staatlichen Stellen und Industrie klarere Richtlinien für die Etikettierung von Fertignahrungsmitteln. Randolphs diesbezügliche Aktivitäten führten zu seinem Ausschluss aus der Northwestern University Medical School (Medizinschule der Northwestern University), zum Verlust des Forschungsstipendiums eines Nahrungsmittelherstellers und zu zunehmender beruflicher Isolation. Trotzdem praktizierte er weiter als Allergologe und veröffentlichte Aufsätze und Abhandlungen über Nahrungsmittelüberempfindlichkeiten.

1951, einige Jahre vor dem Erscheinen von Rachel Carsons einflussreichem Buch über Umweltschadstoffe, löste Randolph eine weitere Debatte aus, als er formulierte, dass die „steigende Umweltverschmutzung durch Chemikalien eine der Hauptquellen für chronische Krankheiten“ wäre. In den folgenden Jahren widmete sich Randolph der Erkundung umweltbedingter Krankheitsfaktoren, gründete 1965 die Society for Clinical Ecology (Gesellschaft für klinische Ökologie), die später zur American Academy of Environmental Medicine (Amerikanische Akademie für Umweltmedizin) wurde, schuf seine eigene Ecology Unit (Ökologieeinheit) oder Environmental Control Unit (Umweltkontrolleinheit) zur Diagnose und Behandlung von Nahrungsmittel- und Chemikalienüberempfindlichkeiten und veranlasste einige Kliniker, den Kampf gegen die Verschmutzung von Umwelt und Nahrungskette fortzuführen. In Großbritannien wurde sein Schaffen insbesondere von Richard Mackarness (1916-1996) aufgegriffen, der Randolph in den 1950er-Jahren kennengelernt hatte und am englischen Basingstoke Hospital dessen Ansichten bei der Behandlung von Patienten mit psychischen Krankheiten anwandte. In den 1980er- Jahren wurde es Mackarness’ Randolph gewidmetem Buch Not all in the Mind zugeschrieben, „im vergangenen Jahrzehnt am meisten dafür getan zu haben, die weiter verbreiteten Auswirkungen von Allergien an eine größere Öffentlichkeit zu bringen“.

Die Hauptlehrmeinungen der in der Nachkriegszeit entstehenden klinischen Ökologie waren relativ einfach. Unter Zugrundelegung einer umfassenden Allergie-Definition, die an Clemens von Pirquet erinnerte, glaubte Randolph, dass eine große Anzahl von physischen und psychischen Symptomen das Ergebnis von biologischen Überempfindlichkeitsreaktionen auf gewöhnliche Nahrungsmittel, eingeatmete Natursubstanzen und chemische Schadstoffe aus der Umwelt und dem Haushalt wären. So könnten beispielsweise Kopfschmerzen, Arthritis, Asthma, Heuschnupfen, Erschöpfung, Unterleibsbeschwerden, Depressionen und Angstzustände sämtlich von stofflichen Bestandteilen des täglichen Lebens hervorgerufen werden. Randolphs Ansatz war den klinischen Allergologen nicht unbekannt, die Heuschnupfen, Asthma, Ekzeme und Nahrungsmittelallergie regelmäßig als Reaktionen auf Substanzen ansahen, die geschluckt, eingeatmet oder berührt worden waren. Zwischen der klinischen Ökologie und der klinischen Allergologie gab es jedoch deutliche Unterschiede.

Erstens: Randolph bestand darauf, dass allergische Reaktionen von regelmäßiger Gefährdung durch niedrige Konzentrationen vieler nicht toxischer und scheinbar nicht allergener Substanzen hervorgerufen werden könnten. Zum Zweiten behauptete er, dass zusätzlich zur Auslösung sofortiger Symptome (die für Heuschnupfen und Asthma kennzeichnend waren) Allergien auch verschiedene nicht genau definierbare chronische Leiden herbeiführen könnten. In diesen Fällen, die er ausdrücklich mit den an einer Sucht beteiligten physiologischen und psychologischen Vorgängen in Verbindung brachte, würde der Zusammenhang zwischen dem verantwortlichen Nahrungsmittel oder der Chemikalie und der biologischen Reaktion häufig von den Anpassungsvorgängen des Körpers überdeckt oder verborgen, was die Diagnose schwierig machen würde. Um diesem Problem Herr zu werden, schrieben Randolph und seine Anhänger spezielle Ernährungsweisen vor, bei denen die durch Immunitätstests ermittelten Nahrungsmittel und Chemikalien vermieden wurden. Die von den etablierten Allergologen angewandten Hauttests wandten sie aber eher nicht an.

Auch das Verständnis klinischer Ökologen über an Allergien beteiligte Vorgänge und ihr Behandlungsansatz unterschieden sich von dem der Allergologen. Während die konventionellen Allergologen sich größtenteils auf die durch IgE ausgelösten Überempfindlichkeitsreaktionen konzentrierten und andere Formen der Überempfindlichkeit eher als Intoleranz denn als Allergie bezeichneten, brachten die klinischen Ökologen eine viel größere Anzahl von immunologischen, neurologischen und hormonalen Faktoren mit der Pathogenese von Allergien in Verbindung. In einem 1983 veröffentlichten Interview gab Randolph seiner Verachtung darüber Ausdruck, dass Allergologen sich ausschließlich auf IgE konzentrieren würden: Die Allergologen stecken in einer selbst konstruierten Falle. Es gibt zahllose Allergiemechanismen. Es ist lächerlich, das Konzept der Überempfindlichkeit allein auf den IgE-Mechanismus zu beschränken. Sie versuchen, eine exklusive Praxis daraus zu machen. Sie werden nicht aufgeben. Warum? Weil sie Dummköpfe sind.

In einer klinischen Ökologieabteilung wurden auch andere als die konventionellen Behandlungsmethoden – die in erster Linie auf Veränderungen individueller Strukturen immunologischer Reaktionsfähigkeit gerichtet waren und entweder die Desensibilisierung oder pharmazeutische Mittel wie Antihistamine, Bronchodilatatoren und Kortikosteroide einsetzten – angewandt. Im Gegensatz dazu betonten klinische Ökologen, wie wichtig es sei, schädliche Subtanzen durch eine speziell auf die Anfälligkeit individueller Patienten zugeschnittene Ernährungsweise (z. B. die „turnusmäßig diversifizierte Kost“) zu vermeiden und sich eine sichere Umgebung oder „Oase in der verschmutzten Welt“ zu schaffen, in die sich die Patienten zurückziehen und von den Gefahren der modernen Zivilisation erholen könnten.

Natürlich gab es gedankliche und praktische Vorläufer und fachliche, soziale, politische und kulturelle Einflüsse, der die klinische Ökologie in der Nachkriegszeit ihr Entstehen verdankte. Zum einen wird es kein Zufall gewesen sein, dass Randolph sich in Chicago niedergelassen hatte, wo Tierökologen wie Warder Clyde Allee (1885-1955) und Alfred Edwards Emerson (1896-1976) eine Ökologierichtung entwickelt hatten, die die Rolle der Umwelt über die der Vererbung stellte, und die, im Gegensatz zu Wettbewerb, romantische Vorstellungen von Kooperation, Harmonie und Ganzheitlichkeit geltend machte. Doch auch wenn das Entstehen der Ökologie als Studienrichtung einem lokalen Einfluss unterworfen gewesen sein mag, so verortete Randolph seine Vorstellungen nicht in einer größeren ökologischen Tradition, sondern betonte lieber die klinische Herkunft seiner Disziplin. Die von Randolph gepflegte und von Mackarness weiterverfolgte ökologische Vision war in erster Linie von den Forschungen der Pioniere auf dem Gebiet der Nahrungsmittelallergie beeinflusst. Bald nachdem Charles Richet und Clemens von Pirquet die Begriffe ,Anaphylaxie* und Allergie eingeführt hatten, begannen einige Klinikärzte und Wissenschaftler wie der irischstämmige Arzt Francis Hare (1857-1928), idiosynkratische Reaktionen auf bestimmte Nahrungsmittel immunologisch aufzufassen, und sie nahmen an, dass klinischen Leiden oft Nahrungsmittelallergien zugrunde liegen würden, einschließlich Asthma, Ekzemen, Migräne, Stimmungsschwankungen und Verdauungsstörungen.

Randolph stützte sich insbesondere auf die Forschungen einiger führender amerikanischer Allergologen: Albert H. Rowe (1889-1970), den die Arbeit von Charles Richet und seiner Kollegen über die „anaphylaxie alimentaire“ angeregt hatte und der in den 1920er- und 30er-Jahren spezielle Diäten zur Behandlung von Nahrungsmittelallergien eingeführt hatte; Herbert J. Rinkel (1896-1963), der durch Beobachtungen seiner eigenen Reaktion auf Eier die Vorstellung von der „verdeckten Allergie“ formulierte; und Arthur F. Coca, der 1943 die Vorstellung einer „familial nonreaginic food allergy“ (familiäre nicht-reagine Lebensmittelallergie) erkundete und den Puls-Test zum Aufspüren problematischer Nahrungsmittel empfohlen hatte.

Während seiner Anfangsjahre als Krankenhausarzt stand Randolph in enger Verbindung zu Rowe, Rinkel und Coca, und Mackarness hatte 1963 Albert Rowe während eines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten kennengelernt. Als Randolph und Mackarness anfingen, ihre Arbeiten einem Fachpublikum und der breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, gaben sie ausdrücklich zu, in der Schuld ihrer Vorgänger zu stehen, von denen zwei (Rowe und Rinkel) auch auf dem ersten 1963 im französischen Vichy abgehaltenen Kongress zu Nahrungsmittel- und Verdauungsallergien geehrt wurden. Als die klinischen Ökologen sich dann durch die Annahme neuartiger Diagnose- und Behandlungsprotokolle weiter von der anerkannten Allergologie entfernten, profitierten sie auch von zeitgenössischen Entwicklungen anderer Gebiete der physiologischen und pathologischen Wissenschaften. So verwandten sowohl Randolph als auch Mackarness das Konzept der „Adaption“ des österreichischen Arztes Hans Selye, der die meiste Zeit seines Berufslebens in Kanada verbracht hatte und der von Mackarness als einer der „Unsterblichen der Medizinforschung“ angesehen wurde – in einer Reihe mit Louis Pasteur, Frederick Banting und Alexander Fleming.

In den 1930er- und 40er-Jahren fing Selye an, physiologische Stressreaktionen zu untersuchen (er hat sie als „durch Leben verursachten Verschleiß“ definiert). Er legte dar, dass viele klinische Leiden (einschließlich Allergien, rheumatische Arthritis und Hypertonie) nicht nur als Anzeichen eines von außen zugefügten Schadens aufgefasst werden sollten, sondern als „Manifestationen der adaptiven Körperreaktionen, seiner Abwehrmaßnahmen gegen Stress“.

Indem er den Ausdruck „general adaption syndrome“ zur Beschreibung einer gemeinsamen neurologischen, immunologischen und endokrinologischen Reaktion auf Stress prägte, skizzierte Selye drei Hauptstadien des Stress-Syndroms: die Alarmphase, bei der der Körper sofort reagiert (insbesondere durch die Produktion von Kortikosteroiden), um Stress- oder Schockzuständen entgegenzuwirken; die Phase des Widerstands oder der Adaption, in der die physiologischen Abwehrmaßnahmen versuchen würden, die Homöostase angesichts der anhaltenden Gefährdung durch „Stressoren“ aufrechtzuerhalten; und schließlich die Phase der Erschöpfung, bei der der Körper den Stress nicht mehr länger ausgleichen kann. Diese Vorstellung einer charakteristischen zeitlichen Abfolge als Reaktion auf Stress von außen war es, die klinische Ökologen wie Randolph und Mackarness aufgriffen, um allergische Reaktionen auf Umweltstoffe zu erklären.

In der Alarmphase würde der erstmalige Kontakt mit bestimmten Nahrungsmitteln und Chemikalien zu sofortigen Überempfindlichkeitsreaktionen wie Heuschnupfen, Asthma und anaphylaktischen Schocks führen. Der weitere, auch geringfügige Kontakt würde adaptive Mechanismen aktivieren, die den kausalen Zusammenhang zwischen dem Allergen und den Symptomen verschleiern und paradoxerweise zu physiologischer und psychologischer Abhängigkeit von der schädlichen Substanz führen würde. In extremen Fällen würde die fortgesetzte Gefährdung zu einem weitgehenden Zusammenbruch der adaptiven Prozesse und zur Ausbildung der voll entwickelten Krankheit oder sogar zum Tod führen.

Die Vorstellung von Adaption oder Widerstand gegen Umweltstress, wie ihn Selye, Randolph und Mackarness in der Nachkriegszeit formulierten, entsprach Rene Dubos’ zeitgleicher Auffassung von Gesundheit als Fähigkeit, sich der Außenwelt anzupassen. Die politischen und biologischen Grundsätze der klinischen Ökologie standen so in Einklang mit den Interessen moderner Umweltschutzbewegungen der 1960er-Jahre. Natürlich war die Umweltanfälligkeit zu dieser Zeit nichts Neues, sondern bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf manche Art in vielen Ändern aufgetreten. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatten mehrere Rauchbekämpfungsvereine für besseren Schutz von Stadt und Fand gekämpft, für eine Reduzierung der durch Umweltverschmutzung verursachten Erkrankungen und für Einschränkungen der unvollständigen und verschwenderischen Benzinverbrennung. Im 20. Jahrhundert war in Großbritannien, Nordamerika und vielen anderen Ländern bereits vor dem Auftauchen moderner Umweltschutzbewegungen die Aufmerksamkeit der Politik für Umweltthemen vorhanden.

So spielten Umweltsorgen bei der Stadtplanung eine Rolle: in Großbritannien von dem Green Belt Act (Grüngürtelgesetz) von 1938 und den Town and Country Planning Acts (Stadt- und Landplanungsgesetze) von 1932, 1944 und 1947 festgelegt, aber auch bei der Schaffung von Nationalparks in den Vereinigten Staaten und Australien gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Großbritannien der 1950er und bei der Festlegung von Gebieten nationaler Schönheit in England durch den Countryside Act (Landschaftsgesetz) 1949.

Dennoch, wirklich Bedeutung erlangte die moderne Umweltschutzbewegung, sagen Umwelthistoriker, nicht vor den 1960er-Jahren. Zu jener Zeit machte sie weltweit als „ein Zusammenschluss der Sorge um Volksgesundheit und Naturschutz“ auf sich aufmerksam.

Angestoßen 1962 von Rachel Carson, deren „Frontalangriff“ gegen den Einsatz von Pestiziden in Silent Spring für großes Echo in Öffentlichkeit und Medien sorgte, entwickelte sich der moderne Umweltschutz in den 1970er-Jahren rasch zu einer internationalen Bewegung, die von Religionsführern ebenso begrüßt wurde wie von Wissenschaftlern und Politikern, und die in Entwicklungsländern wie Indien und China genauso viel Unterstützung erfuhr wie in den Industrienationen. 1970 erklärte das Time Magazine „die Umwelt“ zum Thema des Jahres.

1971 wurden die Umweltschutzaktionsgruppen Greenpeace und Friends of the Earth gegründet, und die 1970er-Jahre wurden von Life zum „Jahrzehnt der Umwelt“ ernannt. In den 1980ern war die Green Party (Die Grünen), 1975 gegründet, in europäischen Wahlen erfolgreich.

In Großbritannien markiert die Schaffung eines Umweltschutzministeriums im Jahre 1970 den offiziellen Beginn eines gradweisen Grünerwerdens der britischen Politik, ein Prozess, der in den 1980er- und 90er-Jahren an Fahrt gewann, aber auch stark angefeindet wurde.

Die Entfaltung eines weltweiten Umweltinteresses in der Nachkriegszeit wurde teilweise von internationalen Auseinandersetzungen über den offenkundigen Konflikt zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Umweltschutz und Grenzen des Erträglichen angetrieben. Zusätzlich geprägt wurde moderner Umweltschutz von wachsender Akzeptanz gesundheitlicher Auswirkungen auf persönlicher, nationaler und globaler Ebene durch Umweltveränderungen, durch entstehenden Massenkonsum, rasanten technischen Fortschritt in westlichen Ländern sowie durch politische Umwälzungen und die Herausforderung etablierter Machtstrukturen, die in Bürgerrechtsbewegungen und Kampagnen gegen das nukleare Wettrüsten Ausdruck fand.

Dabei beförderten die Umweltaktivitäten der Basis, ermöglicht durch Fernsehen und andere Formen der Massenkommunikation, im Gegenzug das Wachstum der klinischen Ökologie. Die Kritik von Umweltschützern an der modernen Industrie- und Handelsgesellschaft, die in den Augen vieler Menschen die Umwelt mit toxischen Chemikalien verschmutzt, brachte auch die klinischen Ökologen dazu, Ideologien und Annahmen der modernen westlichen Gesellschaft infrage zu stellen. Randolphs Meinung nach arbeitete die Notwendigkeit, eine gesündere Energieversorgung und verträglichere Grundmaterialien zu finden, Hand in Hand „mit, nicht gegen den Umweltschutz“, um so den Vormarsch von Allergien zu stoppen. Indem er anprangerte, die Zivilisation habe „unser natürliches Gleichgewicht mit der Umwelt“ verändert, beanspruchte Randolph für seine Disziplin eine Schlüsselposition im Kampf gegen die vielfältigen Gefährdungen der Moderne: „Die klinische Ökologie zeigt uns, wie das Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seiner Umwelt unter der Bedingung einer fortschrittlichen Zivilisation wieder hergestellt werden kann.“ Laut Randolph bot die klinische Ökologie daher praktikable Überlebensstrategien in einer „vergifteten Welt“.

Kaum ein Aspekt des modernen Lebens wurde nicht der ökologischen Kritik unterzogen. Die Pharma-, Kosmetik-, Nahrungsmittel und petrochemische Industrie wurde von Randolph und Mackarness scharf dafür kritisiert, in immer größerer Zahl Allergien und Abhängigkeiten auszulösen und zu unterstützen. Eine Klage, die von der Tagespresse beständig wiederholt wurde: „Das Ausmaß der chemischen Verfälschung von Nahrung ist skandalös, und es liegt natürlich im Interesse von Wirtschaft und Industrie, die allgemeine Unwissenheit der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, was den weitverbreiteten Einsatz von Chemikalien wie Tartratzin, Mononatriumglutamat, Nitrat, butyliertes Hydroxytoluol (BHT), butyliertes Hydroxanisol und Natriumbenzoat angeht.“ Zusätzlich gerieten die klinischen Ökologen in direkten Konflikt mit konventionellen Medizinern, als sie sich ausdrücklich den angeblich anarchistischen Überzeugungen des in Österreich geborenen Soziologen und ehemaligen katholischen Priesters Ivan Illich (1926-2002) anschlossen, der behauptet hatte, die moderne Medizin wäre durch ihr Vertrauen auf „belastete Substanzen“ selbst zu einer größeren Gesundheitsbedrohung geworden.

Wie Randolph nur zu gut wusste, konnten weder die Ärzteschaft noch an Wirtschaft und industriellem Wachstum Interessierte eine solche stark antimoderne Haltung gutheißen. So wurden die Theorien und Behandlungsmethoden der klinischen Ökologie als fehlgeleitet und gefährlich zurückgewiesen und Patienten mit multiplen Überempfindlichkeiten gegen gewöhnliche Substanzen (z. B. Leitungswasser) oft mit der Behauptung lächerlich gemacht, sie litten an einer „Pseudoallergie“ oder „falschen Nahrungsmittelallergie“. Das sollte suggerieren, in vielen Fällen wären die Symptome rein psychosomatischer Natur. Obwohl der Bericht des Royal College of Physicians von 1992 akzeptierte, dass Umweltfaktoren bei allergischen Krankheiten ein Rolle spielen könnten, wurde manche Methode klinischer Ökologen und anderer alternativer Ärzte abgelehnt. So zum Beispiel die ungenauen Allergie-Definitionen, die Anwendung unbewiesener Diagnosetests (wie der Provokations-Neutralisations-Test, Haaranalyse und Kinesiologie) und die Entwicklung von Behandlungen, die nicht von objektiven wissenschaftlichen Belegen gestützt wurden und die Patienten zu stark eingeschränkten Ernährungsweisen ermutigten. Ähnlicher Widerstand kam andernorts auf, besonders in den Debatten über das Totalallergie-Syndrom. Wie Michelle Murphy gezeigt hat, waren konventionelle amerikanische Ärzte „dieser neu auftauchenden Krankheit mit größter Skepsis begegnet“ und hatten multiple Chemikalienüberempfindlichkeit „eine illegitime Diagnose“ genannt.

In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts versuchten einige Wissenschaftler und Kliniker zwischen klinischen Ökologen und ihren Kritikern zu vermitteln. Indem sie ältere Auffassungen der komplexen Ätiologie und Pathogenese von Asthma und anderen wissenschaftlichen Arbeiten Hans Selyes, Erwin Pulays und weiteren zitierten, versuchten sie, ganzheitliche, ökologische Allergievorstellungen mit modernen biomedizinischen Krankheitsauffassungen in Einklang zu bringen und erkundeten die physiologischen Interaktionen zwischen neurologischen, immunologischen und hormonellen Anpassungsprozessen an Umweltveränderungen. Trotz solcher Versuche, die offenkundigen fachlichen und politischen Spannungen zu entschärfen, führten die Auseinandersetzungen über multiple Überempfindlichkeiten gegen alltägliche Nahrungsmittel und Chemikalien in der Umwelt zu einer immer stärkeren Polarisation.

Auf der einen Seite bemühten sich die jenigen, die den biologischen und politischen Lehren der klinischen Ökologie Treue geschworen hatten, die Gefahren der modernen industriellen und häuslichen Umwelt aufzudecken. Von alternativen Ärzten vorgebrachte Fallgeschichten wurden von sensationsheischenden Dar-stellungen in den Medien begleitet, die von Patienten berichteten, die Richard Mackarness als „chemische Opfer“ bezeichnet hatte, und eine angeblich „chemisch ausgerichtete Gesellschaft“ wurde heftig angefeindet.

So gesehen waren Menschen mit den Symptomen von Nahrungsmittelallergien und Umweltkrankheit, für die die „normale spätkapitalistische Umwelt“ unbewohnbar geworden war, nicht nur Beispiele für den „Protest der Körper“ gegen die materielle Welt und den Materialismus der modernen Gesellschaft, sondern auch Vorboten einer drohenden ökologischen Katastrophe. „Multiple Chemikalienüberempfindlichkeit“, schrieben Steve Kroll-Smith und H. Hugh Floyd 1997, „ist die neueste Entwicklung in einer Reihe von Umweltwarnungen und technologischen Unfällen, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgetreten sind.“ Im Gegensatz dazu verurteilten die meisten konventionellen Ärzte auch weiterhin die Theorien der klinischen Ökologie und zweifelten das Vorhandensein vieler Nahrungsmittel- und Chemikalienüberempfindlichkeiten an. „Nahrungsmittelallergien“, so 2003 der Bericht des Royal College of Physicians, „sind Anlass für heftige Auseinandersetzungen.“

Auch wenn der Bericht Existenz und klinische Bedeutung von nachweisbaren, durch IgE ausgelösten und manchmal lebensbedrohlichen allergischen und anaphylaktischen Reaktionen auf verschiedene Nahrungsmittel (z. B. Erdnüsse, Schalentiere, Eier und Milch) anerkannte, zögerte er, die ausgefalleneren Behauptungen alternativer Heilpraktiker, dass Allergien für eine große Anzahl von systemisch-somatischen Symptomen verantwortlich wären, zu akzeptieren. In solchen Fällen sprach der Bericht lieber von Nahrungsmittel-Intoleranzen als von Allergien, und er betonte so die Schwierigkeiten der Festlegung einer wissenschaftlichen Grundlage für die Behandlung: „Nahrungsmittel-Intoleranz ist ein schwierigeres und schlecht definiertes Gebiet, bei dem es wesentlich weniger Anhaltspunkte für eine Vorgehensweise gibt. “ Andere Autoren waren weniger diplomatisch und betonten nicht nur die „große Diskrepanz zwischen dem Überwiegen selbst festgestellter Allergien in der Bevölkerung und dem sehr niedrigen Vorkommen von durch objektive Methoden erkannten Allergien“, sondern deuteten auch an, dass viele Patienten mit Umweltkrankheiten eher psychische als immunlogische Probleme hätten.

Die klinische Skepsis schwappte in Allergiedarstellungen der Tagespresse, bis zu einem gewissen Grad wohl auch von ihr selbst angeregt. Zur Jahrtausendwende wurde in Reportagen in britischen Zeitungen die zeitgenössische Zwangsvorstellung von Nahrungsmittelallergien regelmäßig eher als Mode, Hirngespinst oder Laune aufgefasst, und nicht als Tatsache. Indem Journalisten Allergiesorgen mit gesellschaftlicher Besessenheit von Diäten und Körperbildern in Verbindung brachten, unterstellten sie, im Gegensatz zu den Behauptungen klinischer Ökologen spielten sich viele Allergien tatsächlich „nur im Kopf“ ab. Kritischer war, dass betont wurde, Allergien würden dem „medizinischen Zeitgeist“ entsprechen und wären zu einer „Pseudoepidemie“ geworden, die nicht nur die modernen Ängste vor der Umweltverschmutzung widerspiegeln würde, sondern auch – im Falle von Nahrungsmittelallergien – die Zwangsvorstellungen der Mittel- und Oberschicht von Einfluss und Folge moderner Ernährungsgewohnheiten auf Gesundheit und gesellschaftlichen Status: „In den tonangebenden Kreisen wird dem, was man auf dem Teller beiseite schiebt, größere Bedeutung für die Gesundheit zugeschrieben als dem, was man isst.“

Auseinandersetzungen über biologische Echtheit bei Chemikalienüberempfindlichkeiten und Nahrungsmittelallergien und zur wissenschaftlichen Legitimität der klinischen Ökologie wurden von Unstimmigkeiten über die geeignetsten Arten der Bewertung moderner Diagnose- und Behandlungsmethoden begleitet. Während konventionelle Ärzte und staatliche Gesundheitsorganisationen generell auf große kontrollierte Versuchsreihen nach dem Zufallsprinzip zur objektiven Bestimmung der klinischen Wirksamkeit bestanden, widersetzten sich alternative Heilpraktiker für gewöhnlich der statistischen Methode und zogen es vor, die zentrale Rolle von individueller Erfahrung und persönlichen Gesprächen hervorzuheben. „Die Betonung liegt hier auf dem Wort du“, schrieben Randolph und Moss 1980, „dies ist ein individueller Ansatz.

Es geht um die Interaktion zwischen dir und deiner eigenen besonderen Umgebung, die sich von jeder anderen unterscheidet.“ Zusätzlich, das haben klinische Ökologen hervorgehoben, wurden die Dispute über Chemikalienüberempfindlichkeiten von Sorgen der Industrie über wirtschaftliche und politische Folgen der ökologischen Lehrmeinungen angeheizt. Ratschläge, die Einnahme von Medikamenten oder bestimmter Lebensmittel zu vermeiden oder einzuschränken, machten Randolph und seine Kollegen bei der Pharma- und Nahrungsmittelindustrie nicht gerade beliebt, die von „einer ergiebigen Schicht“ von „hochverängstigten Käufern“ profitierte. Letztendlich lauerte im Grunde nur wieder die altbekannte Auseinandersetzung über Definition, evolutionären Zweck und metaphorische Bedeutung von Allergien in vielen dieser modernen Kontroversen über die physische und existenzielle Realität multipler Überempfindlichkeiten gegen Chemikalien oder Nahrungsmittel und über den Wert der klinischen Ökologie.