Start Geschichte der Allergien Allergiegeschichte und Allergiestaat – wichtige Information

Allergiegeschichte und Allergiestaat – wichtige Information

1947

Allergiegeschichte und Allergiestaat
Wie viele chronische Leiden hat die Allergie bei Historikern trotz ihrer prominenten Stellung in der modernen Medizin, Politik und Alltagskultur wenig Interesse auf sich gezogen. Porter und Rousseau bemängelten, dass die Vernachlässigung von chronischen Krankheiten seitens der Historiker „ziemlich kurzsichtig“ sei. So haben sich Studien zum epidemiologischen Wechsel deutlich auf den Rückgang von Infektionskrankheiten in der Moderne konzentriert, jedoch selten detaillierte Erkenntnisse zum Ansteigen chronisch-degenerativer Leiden geliefert. Abgesehen von frühen Untersuchungen zur Geschichte von Krebs und Arthritis, oder jüngst vorgelegten Studien zur Geschichte der Arbeitsplatzgesundheit, die die Umweltbedingungen und die Richtlinien für chronische, nicht ansteckende Krankheiten wie Asbestosis, Silicosis und Bleivergiftung untersucht haben, zeigten Historiker bislang nur begrenzt Interesse an der dramatischen Kehrseite moderner demografischer und gesundheitlicher Veränderungen oder am „Versagen des Erfolgs“, wie es Ernest Gruenberg in seinen provozierenden Betrachtungen über die Ausbreitung chronischer Krankheiten und Gebrechen vor Jahren auf den Punkt gebracht hat.

In den historischen Arbeiten über die Immunologie sind Allergien nur am Rande vorgekommen. Einige neuere ertragreiche Übersichtsarbeiten zur Immunologie von Ilana Löwy, Anne Marie Moulin, Alberto Cambrosio, Peter Keating, Arthur Silverstein, Leslie Brent, Pauline Mazumdar, Alfred Tauber, Thomas Söderqvist u. a. haben viele entscheidende Einzelentwicklungen dieser Disziplin beleuchtet. Sie haben insbesondere die unterschiedlichen Paradigmenwechsel beschrieben, die im 19. und 20. Jahrhundert die immunologischen Herangehensweisen an körpereigene Abwehrmechanismen kennzeichneten. Diese Arbeiten wiesen nach, dass ungefähr zwischen 1880 und 1910 eine enge Verbindung zwischen der Labor- und der klinischen Immunologie sowie der experimentellen Pathologie und Physiologie bestand, die zur Entwicklung und Verbreitung von neuen Behandlungsmethoden wie der Vakzin- und Serumtherapie beigetragen hat. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte das offenkundige Versagen der Vakzintherapie zusammen mit dem Aufkommen der „Immunchemie“ (der Begriff wurde 1904 von dem schwedischen Chemiker und Nobelpreisträger Svante Arrhenius geprägt) zur Trennung von Immunologie einerseits und Physiologie und Pathologie andererseits. Dadurch verlagerte sich die Aufmerksamkeit weg von den klinischen Problemen, hin zur biochemischen Laborerforschung von Antikörpern und Antigenen. Nach 1950 führte das wiederauflebende Interesse an immunbiologischen Phänomenen (z. B. das Abstoßen von Transplantaten oder Krankheiten des körpereigenen Immunsystems) zu weiteren Veränderungen. So wurde die Immunologie zu einem Spezialgebiet, das einmal mehr „biologische Grundlagenforschung mit der medizinischen Praxis“ verband.

Viele historische Arbeiten zur Immunologie haben sich jedoch stärker auf einzelne, deutlich abgegrenzte theoretische Auseinandersetzungen mit der self/non-self discrimination konzentriert oder auf das Entstehen von Antikörperdiversität und Antikörperspezifität oder auf die Ausarbeitung und Verbreitung zukunftsweisender Hypothesen und Techniken, wie Paul Ehrlichs ,Seitenkettentheorie der Antikörperbildung, Frank Macfarlane Burnets ,clonal selection theory, Niels Jernes Vorstellung eines ,idiotype-antidiotype network, oder auf die jüngst entwickelte Produktion monoklonaler Antikörper. Indem Warwick Anderson, Myles Jackson und Barbara Gutmann Rosenkrantz spöttisch für eine „unnatürliche Geschichte der Immunologie“ eintraten, haben sie überzeugend dargelegt, dass die Historiker weitgehend in den konventionellen Grenzen oder den von Immunologen selbst „erfundenen Traditionen“ tätig waren. Die „Geschichte unklarer und ungewisser Dinge wie Immunität, Ansteckung oder Allergie – Themen, die häufig nicht als Erbteil der neu erfundenen Tradition angesehen werden hätten sie nicht erkundet. So gesehen besteht eindeutig Bedarf an einer „alternativen Geschichte der Immunologie, einer Geschichte nicht der Labore, sondern der Krankenhäuser und Kulturen“.

Bis vor Kurzem herrschte auch in historischen Studien zur Allergie die Betonung des geistesgeschichtlichen und fachdisziplinären Fortschritts vor. Entwicklungen der Allergieforschung wurden für gewöhnlich als eine Abfolge wichtiger Entdeckungen, zukunftsweisender Publikationen und als Einfluss von Wissenschaftlern dargestellt, die das Fach der Immunpathologie von der großen Unwissenheit des späten 19. Jahrhunderts bis zum aufgeklärten Wissen und zur therapeutischen Effektivität zu Beginn des neuen Jahrtausends gebracht hätten. Solche größtenteils von klinischen Immunologen und Allergologen verfassten historischen Arbeiten führten chronologisch vor, was moderne Mediziner als die entscheidenden Momente in der Entwicklung ihres Spezialgebietes ansahen: die Schöpfung des Begriffes ,Überempfindlichkeit 1894, die Entdeckung der organischen und der lokalen Anaphylaxie 1902 und 1903, die Einführung des Begriffes „Allergie“ 1906, die Entdeckung des Histamins durch Henry Dale, den
Nachweis der passiven Übertragung allergischer Reaktionen und die Bestimmung der ,Atopie Anfang der 1920er-Jahre, die Klassifizierung von Überempfindlichkeitsstadien, die bei den in den 1950er- und 60er- Jahren angewandten immunologischen Verfahren beobachtet werden konnten, die Einführung wirksamerer chemotherapeutischer Heilmittel (wie Antihistamine, Bronchodilatatoren und inhalative Steroide) in der Zwischen- und Nachkriegszeit, die Entdeckung von IgE 1967 und die jüngsten Fortschritte beim immunologischen Verständnis der an der Pathogenese allergischer Krankheiten beteiligten chemischen Botenstoffe.

Gradlinige Darstellungen der Allergiegeschichte, insbesondere die erschöpfenden bibliografischen Überblicksarbeiten von Hans Schade- waldt, trugen dazu bei, die Hauptakteure und Konzepte zu bestimmen, die die Vorstellungen und den klinischen Schwerpunkt von Allergologen geformt haben. Und vielleicht haben sie zu Zeiten beruflicher Verunsicherung auch stabilisierend gewirkt.

Häufig wird in solchen Geschichtswerken jedoch versäumt, Fragen der Soziaigeschichte adäquat zu untersuchen. So wurden umstrittene zeitgenössische Debatten über die Mechanismen allergischer Phänomene ignoriert und stattdessen nur jene Entwicklungen angeführt, die den Anschein einer ruhigen und problemlosen Entwicklung einer modernen Wissenschaft erweckten. Daher haben positivistische Darstellungen der Allergiegeschichte häufig die konkurrierenden

Erklärungen für allergische Störungen geringgeschätzt. Nur zu bereitwillig gaben sie immunologischen Erklärungen für Heuschnupfen, Asthma und andere Leiden den Vorzug und hatten Vorbehalte gegen das große zeitgenössische Interesse an den möglichen hormonalen, toxischen, neurologischen, psychologischen oder sozialen Ursachen für diese Krankheiten. Auf ähnliche Weise haben sie oft den Sorgen über die Natur und die Beziehung von Allergie und Immunität oder über die Rolle von allergischen Phänomenen bei der Entwicklung von Immunreaktionen keine Beachtung geschenkt; Fragen, die Kliniker und Wissenschaftler überall im gesamten 20. Jahrhundert entzweiten. Solche Darstellungen haben auch die unmittelbaren intellektuellen, institutionellen und pragmatischen Einflüsse und Determinanten für die Allergologie als medizinisches Fachgebiet übersehen. Anders als viele positivistische Darstellungen annehmen lassen, verdankt die klinische Immunologie und Allergologie ihr Entstehen nicht unmittelbar oder ohne Probleme den Laboruntersuchungen zur Überempfindlichkeit oder Anaphylaxie. Im Gegenteil, in Großbritannien und den Vereinigten Staaten führte eine Kombination aus praktischen klinischen sowie beruflichen Erwägungen zur Entwicklung der Allergologie als medizinischem Spezialgebiet.

Vielleicht noch entscheidender ist schließlich, dass die positivistischen Geschichtsdarstellungen sich nicht selten darüber hinwegsetzten, wie sehr sich die Bedeutung von „Allergie“ mit der Zeit geändert hatte, und die Anpassungsfähigkeit und Dehnbarkeit des Begriffs ignorierten. Es muss hervorgehoben werden, dass die Bedeutung des Begriffes ,Allergie‘ ähnlich wie der der Tuberkulose (und vieler anderer Krankheiten) sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts veränderte. Heute versteht man unter Allergie andere pathologische Zustände als 1906, zur Entstehungszeit des Begriffs. Einige der modernen Auffassungen von Heuschnupfen, Asthma und Nahrungsmittelallergien erinnern nur noch entfernt an Pirquets ursprüngliche Vorstellung von biologischer Reaktionsfähigkeit; die Bedeutungen von diagnostischen Kategorien und Krankheitsbenennungen sind niemals unveränderlich. 1927 schrieb Ludwik Fleck diesbezüglich, man solle Krankheiten nicht als feste naturgegebene Größen ansehen, sondern als „fiktive Idealauffassungen […], um die sowohl die charakteristischen, als auch die variablen Krankheitssymptome gruppiert sind, ohne jedoch jemals völlig mit ihnen übereinzustimmen“.

In ihrer jüngst erschienenen, mustergültigen Kulturgeschichte der Tuberkulose hat Katherine Ott Flecks Warnung wiederholt und betont, dass Krankheit immer „ein Konglomerat von Vorstellungen ist, das je nach Kreis und Epoche anders ist“. Ungeachtet der real existierenden Symptome ist Kranksein „ein sich aus den Körpern der Menschen, den medizinischen Lehrmeinungen und der physischen Substanz von Krankheit zusammensetzendes kulturelles Gebilde“.

Eine kleine Anzahl von Historikern hat in letzter Zeit die Geschichte der klinischen Immunologie, einschließlich der Allergologie im Rahmen dieses breiteren Kontextes zu erkunden begonnen. Kathryn Waite und Michael Emanuel haben beispielsweise eindrucksvoll dargelegt, in welchem Umfang materielle und kulturelle Faktoren zur Ausformung der klinischen Konturen von Heuschnupfen als postindustrieller Zivilisationskrankheit des späten 19. Jahrhunderts beigetragen haben.43 Und John Gabbay und Carla Keirns haben untersucht, wie die Bezeichnung der Krankheit Asthma konstruiert und die Behandlungsmethoden von übergeordneten Vorstellungen von Medizin und Gesellschaft mitgeformt wurden. ln jüngster Zeit haben die ertragreichen Analysen von Charles Richets Anaphylaxiebegriff – durch Ilana Löwy und Kenton Kroker Tilli Tanseys sorgfältige Ausdeutung von Henry Dales Entdeckung des Histamins und Ohad Parnes’ klare Beschreibung der Frühgeschichte der Autoimmunität die Geschichte der Allergie mit der Geschichte der Laborwissenschaft und Pathologie näher in Verbindung gebracht.

Schließlich haben Gregg Mitmans herausragende Studien zur Stellung des Heuschnupfens in der amerikanischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur die Geschichte allergischer Krankheiten einer genaueren Prüfung unterzogen, sondern auch bewiesen, wie nützlich es sein kann, die Medizingeschichte enger mit der Umweltgeschichte zu verknüpfen. Mitmans einfühlsame, die Umwelt in den Blick fassende Analyse des Heuschnupfens reagiert auf eine Forderung Andersons und seiner Kollegen nach „ökologischer ausgerichteten Untersuchungen der Immunität, [die] den Forschungsgegenstand nicht in die engen Grenzen einer Forschungsrichtung zwängen“ würde und die stattdessen „ein nuancierteres – und weniger lineares, weniger festgelegtes – Verständnis der persönlichen, sozialen, kognitiven und technischen Möglichkeiten und Beschränkungen, die die Grenzen der Disziplinen formen (und erhalten)“, hervorbringen würde.

Dieses Portal möchte den von Mitman, Löwy, Kroker, Keirns und anderen angestoßenen Prozess fortführen und die Geschichte der Allergie von ihren Anfängen in der experimentellen Physiologie und Pädiatrie des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nachzeichnen, bis hin zu ihrer Stellung als endemische Plage der modernen Welt. Viele der Quellen, die diesem Portal zugrunde liegen, entstammen den Archiven und Bibliotheken der westlichen Industriestaaten und der Schwerpunkt der Ausführungen liegt weitgehend auf Großbritannien, Nordamerika und Westeuropa. Hier wurde erkannt, dass allergische Erkrankungen ein bedeutendes sozialwirtschaftliches und volksgesundheitliches Problem darstellen, und hier wurde auch die klinische Allergologie erstmals als eigenständiges medizinisches Spezialgebiet begründet. Dennoch ist angesichts des dramatischen Anstiegs von Allergien in Entwicklungsländern im späten 20. Jahrhundert und den von den internationalen Gesundheitsorganisationen vorgebrachten wachsenden Sorgen über die weltweiten sozialwirtschaftlichen Auswirkungen von allergischen Erkrankungen die Geschichte vom Auftauchen der Allergie eine globale Angelegenheit.

Im folgenden Artikel soll die Vorgeschichte und die Aufnahme von Clemens von Pirquets Allergiebegriff im frühen 20. Jahrhundert nachgezeichnet werden. Obwohl Pirquet sich auf seine Kenntnis des natürlichen Verlaufs von Infektionskrankheiten stützen konnte sowie auf seine eigenen Beobachtungen von Impfreaktionen und Serumkrankheit bei Kindern, die gegen Scharlach und Diphtherie behandelt worden waren, wurde er gleichzeitig stark von den traditionellen Idiosynkrasieauffassungen, den Überempfindlichkeitsbeschreibungen des späten 19. Jahrhunderts und den Laborstudien experimenteller Physiologen wie Charles Richet geprägt.

Pirquets Begriff setzte sich allmählich in den medizinischen und wissenschaftlichen Kreisen der westlichen Welt durch, und seine Konzentration auf die klinischen Folgen der Laborforschung sollte das Studium und die Praxis der Allergologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmen. Dennoch ist kennzeichnend, dass die anfängliche Rezeption seiner Schriften unter europäischen und nordamerikanischen Wissenschaftlern und Klinikern Auseinandersetzungen über Bedeutung und Mechanismen von Allergien und über den entwicklungsgeschichtlichen Zweck verschiedener schädlicher Symptome einer veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit auslöste.

Die Erkenntnis, dass immunologische Abläufe womöglich bestimmte Krankheitsverläufe erklären könnten, ersetzte nicht sofort die früheren Vorstellungen der Ätiologie von Heuschnupfen, Asthma und Ekzemen, die von einigen Autoren immer noch als hormonelle oder psychologische Störungen oder als Ergebnis von Toxinen aufgefasst wurden. Pirquets Erkenntnis hat jedoch eindeutig eine Reihe von zuvor unvereinbaren Leiden zusammengefasst, denen man nun eine gemeinsame Pathologie, eine gemeinsame Epidemiologie und eine gemeinsame Geschichte zuschrieb. Indem sein Konzept die biologische Grundlage von Erkrankungen wie Heuschnupfen hervorhob, entzog es Therapieansätzen, die Umwelt oder Klima verantwortlich machten, die Aufmerksamkeit, die nun der Behandlung individueller allergischer Reaktionen galt. Wie im 3. Artikel dargelegt werden soll, gab dieser Wechsel gemeinsam mit der Entwicklung der Vakzinbehandlung und klinischen Untersuchungen des Heuschnupfens den Impuls für die Schaffung einer zentralen neuen Therapie, die für gewöhnlich ,Desensibilisierung oder ,Immuntherapie genannt wurde. Obwohl über Anwendung, Wirksamkeit und Sicherheit dieses Verfahrens sowie über die Absichten seiner Anwender Uneinigkeit bestand, und die Einführung einer Reihe von Medikamenten – wie Antihistamine – die therapeutische Geltung der Desensibilisierung infrage stellte, wurde mit ihr Mitte des 20. Jahrhunderts der Grundstein für ein neues medizinisches Spezialgebiet gelegt.

In den 1960er-Jahren hatte sich die klinische Allergologie in vielen westlichen Ländern als medizinisches Spezialgebiet etabliert, das stolz sein konnte auf eigene nationale Gesellschaften, auf wissenschaftliche Zeitschriften und auf eine immer bessere internationale Zusammenarbeit, zum Beispiel in Form von Konferenzen, Workshops und Forschungs- und Schulungsprogrammen.

Diese internationalen Initiativen, die zu einem großen Teil von der neu gegründeten Weltgesundheitsorganisation koordiniert wurden, wurden von der Erkenntnis des dramatischen Anstiegs an Allergien motiviert und gefördert. In den unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahren wurde deutlich, dass sich allergische Krankheiten nicht mehr nur auf die gebildeten, kultivierten Schichten der westlichen Industrieländer beschränkten, wie noch im frühen 20. Jahrhundert angenommen worden war. In den 1950er- und 60er-Jahren musste eingestanden werden, dass Heuschnupfen, Asthma, Nahrungsmittel- und Medikamentenallergien und Reaktionen auf Bienenstiche in allen sozialen Schichten aller Erdteile immer häufiger vorkamen und immer öfter tödlich endeten. Zur selben Zeit war es für Kliniker (und auch für die Öffentlichkeit) üblich geworden, mit der Allergie eine Reihe von scheinbar unspezifischen klinischen Leiden wie Migräne, Kolitis, Pruritus und multiple Sklerose zu erklären.

So warf 1948 eine Broschüre des schweizerischen Pharmaunternehmens CIBA, die Antihistamine aus eigener Produktion bewerben sollte, die Frage auf: „Steckt eine Allergie dahinter?“ Im 4. Artikel soll die Entwicklung der Nachkriegsjahre dargestellt werden, in denen die Allergie zu einer modernen Weltseuche wurde. Auch sollen die damaligen Bemühungen nationaler und internationaler staatlicher und karitativer Einrichtungen zur Eindämmung der steigenden Erkrankungs- und Sterblichkeitsraten nachgezeichnet werden, so zum Beispiel die Erfassung der steigenden Tendenzen allergischer Erkrankungen, um die immunologischen Mechanismen allergischer Reaktionen offenzulegen und die Entwicklung neuer Medikamente zu fördern. Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass Allergien immer häufiger Investitionen hervorriefen, nicht nur von der Pharmaindustrie in der ganzen Welt, sondern auch von Kosmetik-, Reinigungs- und Nahrungsmittelunternehmen sowie von den Medien.

Wie die Allergien, so vermehrten sich auch die Erklärungen für ihr Erscheinen in der modernen Welt. Indem sie die Theorien von Beddoes und Beard zur Ausbreitung der Tuberkulose und Nervenkrankheiten in den vorangegangenen Jahrhunderten wiederholten, sahen die Erforscher der Allergie in ihr in erster Linie eine Krankheit der modernen Zivilisation, hervorgerufen vom Lebensstil und den Umweltbedingungen der modernen Überflussgesellschaft. Vor einigen Jahren wies der deutsche Sozialwissenschaftler Ulrich Beck in seiner einflussreichen Analyse der von ihm so benannten „Risikogesellschaft“ darauf hin, dass in „der fortgeschrittenen Moderne […] die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher[geht] mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken“; Bewohner der heutigen Welt, so seine These, würden auf „dem zivilisatorischen Vulkan“ leben. Im 5. Artikel soll darlegt werden, dass in den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahrzehnten steigende Allergietendenzen genau damit erklärt wurden.

Obwohl epidemiologische Einschätzungen des Risikos oft mit sich ändernden medizinischen Definitionen von Leiden, wie zum Beispiel Asthma, und mit einer immer größeren Dehnbarkeit des Begriffes „Allergie“ zu kämpfen hatten, wurden allergische Krankheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer häufiger mit einer Reihe moderner „Schadstoffe“ (Zigarettenrauch, Autoabgase und Hausstaubmilben), mit modernen Architektur- oder Einrichtungsmoden, mit sich ändernden Einstellungen zum Stillen und zur Immunisierung oder mit Veränderungen häuslicher Sauberkeit, Ernährung und sportlicher Betätigung in Verbindung gebracht.

Die Allergiedebatten der Nachkriegszeit wurden auch vom Wiederaufleben hartnäckiger Diskussionen über die Bedeutung oder den entwicklungsgeschichtlichen Zweck allergischer Reaktionen geprägt. Unter Bezugnahme auf die bahnbrechende Arbeit der amerikanischen Vorkämpfer Rachel Carson (1907-1964) und Theron G. Randolph (1906-1995) fingen Umweltschützer und Ökologen auf der ganzen Welt an, Immunologen und klinische Allergologen anzugreifen, die behaupteten, Allergien wären lediglich Ausdruck einer fehlgeleiteten Immunreaktion. Sie behaupteten im Gegenteil, dass Allergien eine völlig adäquate Reaktion auf die Gefährdung durch die weitverbreiteten Umwelt- und ökologischen Schäden seien. Wie ich im 6. Artikel zeigen werde, wurden auf diese Art Veränderungen von allergischen Leiden und besonders das Auftreten multipler Medikamentenüberempfindlichkeiten bei Patienten vorbehaltlos in die deutliche Kritik an einer weltweiten Konsumgesellschaft mit einbezogen. Die Allergie gewann – obwohl nicht einziges Sinnbild für das Kranksein des Fortschritts – in populärer Protestliteratur und Filmen symbolische Bedeutung als vernünftige und bedeutungsvolle Aversion gegen die diversen Gefahren des modernen Lebens. Zur Jahrtausendwende stand sie für die wachsende Dissonanz zwischen einer angeblich natürlichen biologischen Reaktionsfähigkeit und der Künstlichkeit der modernen Warenwelt.

Der Allergiestaat
Der Präsident der American Association for the Study of Allergy (Amerikanische Gesellschaft zur Untersuchung von Allergien) J. Harvey Black (1884-1958) hat in einer Rede, die er 1935 auf einem gemeinsamen Treffen zweier amerikanischer Allergiegesellschaften in Atlantic City hielt, das medizinische Gebiet der Allergologie scherzhaft mit einem modernen Staat verglichen.

Nachdem er dargelegt hatte, dass eine „sachliche, ja nüchterne Aufzählung der Geografie, Topografie und anderer Merkmale“ der Allergie einigermaßen wertvoll für die Ärzte sein könnte, fuhr Black fort, die Grenzen, das Klima, die Umwelt und die scheinbar unbegrenzten Rohstoffe des noch nicht erkundeten Gebietes sowie die politischen und beruflichen Allianzen und Manöver seiner Einwohner zu beschreiben. Blacks Gleichsetzung erwies sich als ansteckend.

In einem populären Buch zum Thema Allergie, 1939 veröffentlicht und dazu gedacht, den Lesern beizustehen auf „ihrem Weg aus dem Irrgarten dieses seltsamen und quälenden Zustandes“, verglich Warren T. Vaughan (1893-1944), ein führender amerikanischer Allergologe, den sensibilisierten Körper mit einer „großen Stadt oder einem Staat“, der versucht, sich gegen die immer wiederkehrenden Angriffe bekannter Feinde zur Wehr zu setzen.

In beiden Fällen, so Vaughan, obliege die Verteidigung des Gebietes speziellen Einheiten, die „an strategisch wichtigen Stellen an den Grenzen stationiert sind, und deren Pflicht es ist, Widerstand gegen die Invasion zu leisten“. Meistens würden die „Bürger“ (d. h. die verschiedenen Zellen) des „Allergiestaates“ in einer harmonischen und stabilen Umgebung leben, „in einer Flüssigkeit, die angepasst bemerkenswert beständig ist und nicht reizt“. Gelegentlich mobilisiere der Staat jedoch seine Verteidigungsmechanismen zur Selbstverteidigung, wenn bestimmte Substanzen „unbemerkt die Grenzpatrouillen“ überwinden würden. Versuche der Feind erneut einzudringen, so Vaughan, würde die Überproduktion von Schutzbeauftragten (Antikörper oder Botenstoffe wie Histamin) „die üblichen Allergiesymptome“ hervorrufen.

Die beiden einander ähnelnden Vorstellungen eines quasi-geografischen „Allergiestaates“, die Black und Vaughan in den 1930er-Jahren vertraten, waren treffend. Zusätzlich zu einer bemerkenswert jungen und konsistenten Geschichte weist die Allergie (in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen) eine spezielle Geografie auf. Das heißt einerseits, allergische Krankheiten haben sich sowohl räumlich als auch zeitlich epidemieartig verbreitet. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren Allergien nicht nur in der westlichen Welt stärker vertreten als anderswo, sondern kamen auch in bestimmten Regionen häufiger vor. In Nordamerika schwankten zum Beispiel in den 1930er- und 40er-Jahren die Schätzungen für die Verbreitung von Heuschnupfen zwischen drei Prozent an der Ostküste und zehn Prozent in der Nähe des Mississippis, wo Ragweed, das Beifußblättrige Traubenkraut, besonders üppig wucherte.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts änderte sich die geografische Verteilung allergischer Krankheiten. Obwohl es auch weiterhin regionale Unterschiede gab, erreichte die Allergie sowohl in Entwicklungs- als auch in Industrieländern epidemieartige Ausmaße. So war im Japan der frühen 1930er-Jahre Heu-schnupfen offenbar unbekannt, doch 1986 wurde berichtet, dass in einigen stark verschmutzten Bezirken 30 Prozent der Kinder an durch Pollen verursachter Rhinitis litten.

Die weltweite Verbreitung von Allergien und das regionale geografische Gefälle bei der Verbreitung allergischer Krankheiten kann teilweise mit natürlichen Umweltbedingungen erklärt werden, wie dem Vorkommen von Beifußblättrigem Traubenkraut oder bestimmten Grasarten. Es muss jedoch unbedingt berücksichtigt werden, dass die Umwelt, und damit das Risiko der Gefährdung durch Allergene, nicht nur von natürlichen geologischen und umweltbedingten Faktoren bestimmt wird, sondern auch von politischen und wirtschaftlichen Kräften. Wie Gregg Mitman, Michelle Murphy und Christopher Seilers in ihrer Einleitung zu einer schönen Essaysammlung zum Thema Umwelt und Gesundheit zu verstehen gegeben haben, prägten auch sozial und geografisch ausgerichtete Denkmuster von Produktion und Verbrauch die Gesundheitsgefährdungen stark. „Privilegien und Unrecht werden in diese Formen [der Gefährdung] integriert: von den beunruhigenden Miasmen, die die Siedlergemeinschaften verfolgten, über den der ungewaschenen Masse‘ zugeschriebenen Gestank und Schmutz der großen städtischen Metropolen oder der Kolonien, bis hin zu der Reihe von Gefahren, die die Industrieproduktion des Westens und anderswo schafft.“

Deshalb muss eine umweltorientierte oder ökologische Geschichte von Krankheiten sehr aufmerksam auf die wirtschaftlichen und politischen sowie geografischen Bedingungen achten, die nicht nur die städtische, berufliche, häusliche und industrielle Umgebung mitgeformt haben, sondern im Verlaufe dieses Prozesses auch die Risiken, größer werden ließen, bestimmten Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt zu sein.

Ob nun als Krankheit oder Fachdisziplin betrachtet, in beiden Fällen hat die Allergie eine klar abgegrenzte kulturelle Geografie. Diverse Websites, Wissenschaftslabore, Krankenhäuser, Berichte nationaler und internationaler Gesundheitsorganisationen, Seiten medizinischer Zeit-Schriften und Lehrbücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Unterhaltungsfilme und -literatur, die Körper und Ansichten von Patienten sowie die Rhetorik von Politikern, modernen Umweltschützern und klinischen Ökologen haben die medizinischen Konturen und symbolischen Grenzen allergischer Krankheiten gesammelt und verinnerlicht. So wurden wissenschaftliche Meinungen, klinische Begriffe, politische Formulierungen und die Laienauffassungen durch „ein Sieb kultureller Einflüsse gefiltert“, die alle an der Definition von Stellung und Zweck sowie der Symptome von Allergien in der Gegenwart beteiligt waren. Umgekehrt wurde die Allergie dazu benutzt, die traditionellen geografischen, politischen, beruflichen und biologischen Grenzen zu verstärken bzw. anzugreifen.

Unter Berücksichtigung von Beddoes’ scharfer Kritik an der sozialen Bedingtheit der Schwindsucht, muss eine Geschichte des Auftretens der Allergie als moderne Krankheit zwingend die sozialen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Kräfte untersuchen, die die Vorstellungen von Gesundheit und Kranksein mitformten und die Wissensverbreitung und das Kräftegleichgewicht in der Moderne bestimmten.

Seltsame Reaktionen
Für diesen allgemeinen Begriff der veränderten Reaktionsfähigkeit schlage ich den Ausdruck Allergie vor.
Clemens von Pirquet, 19061

Das Wort, Allergie“ wurde von Clemens von Pirquet erstmalig in einem kurzen, abwägenden Artikel gebraucht, der im Juli 1906 in einer deutschen Medizinzeitschrift erschien.

Zusammengesetzt aus den beiden griechischen Wörtern aXkoq (was ,anders“ oder verschieden“ bedeutet) und epTEta (was ,Kraft“ oder ,Reaktionsfähigkeit“ bedeutet), sollte der Begriff ein geeignetes Hilfsmittel zur Definition verschiedener Symptome einer veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit sein. Pirquets neuer Ansatz hatte viele Wurzeln. Einerseits bezog er sich unverkennbar auf wissenschaftliche Berichte über die seltsamen und scheinbar übertriebenen physiologischen Reaktionen von Tieren auf die Injektion von Fremdstoffen, die experimentelle Physiologen und Pathologen in den Laboren der berühmtesten europäischen und amerikanischen Wissenschaftsinstitute festgestellt hatten. Gleichzeitig wurde Pirquets Entwurf zum Verständnis und zur Erkundung biologischer Reaktionsfähigkeit von seiner klinischen Erfahrung mit dem natürlichen Verlauf von Infektionskrankheiten und Impfungen gestützt, die er an seinen Patienten in der Wiener Kinderabteilung hatte beobachten können. Tatsächlich belegt die Herkunft und die Entstehung des Begriffes Pirquets großes Engagement, nicht nur Erkenntnisse aus dem Labor, sondern auch – und das war vielleicht sogar wichtiger für ihn – die am Krankenbett gesammelten Erfahrungen zu verwerten.

Auch wenn seine Auffassung einer veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit vielfach kritisiert wurde und nachfolgende Forscher das anfänglich breite Bedeutungsspektrum erbarmungslos einengten, war Clemens von Pirquets systematische Zusammenstellung einer Reihe unterschiedlicher klinischer und experimenteller Phänomene unter einem Spezialbegriff dennoch einflussreich. Nach und nach wurde der Begriff von Wissenschaftlern, Ärzten, Patienten und der Öffentlichkeit in aller Welt angenommen. Die klinische Ausrichtung von Pirquets Untersuchung der immunologischen Reaktionsfähigkeit förderte auch die Entstehung der Allergologie als wissenschaftliches Spezialgebiet, auch wenn sie sich zu einem gewissen Grad als Belastung erweisen sollte. Insbesondere die von Pirquet in seinen frühen Publikationen aufgedeckten und erforschten offenen medizinischen und wissenschaftlichen Fragen sollten die Allergieforschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beschäftigen. In diesem Artikel sollen die Herkunft von Pirquets Allergieauffassung aus den Untersuchungen der Idiosynkrasie oder Immunität des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die unmittelbare Rezeption sowie die Modifikation und die provokanten Thesen zur biologischen Reaktionsfähigkeit und der andauernde Einfluss von Pirquets Schaffen auf die spätere Allergieforschung dargelegt werden.