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Heuschnupfen Klassenzugehörigkeit und Kultur – Klinische Allergologie

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Heuschnupfen Klassenzugehörigkeit und Kultur
Meiner Ansicht nach wäre es übertrieben zu behaupten, bei der Erforschung dieser toxischen Idiopathien handele es sich um ein neues medizinisches Gebiet, aber ich bin zuversichtlich, dass sie ein sehr großes Gebiet der alten Medizin aus einem ganz neuen Blickwinkel erhellen wird. John Freeman

In den Zwischenkriegsjahren erwies sich Clemens von Pirquets Allergieauffassung als ansteckend. Obwohl er offen für viele Bedeutungen war, wurde der Begriff ,Allergie* immer häufiger von Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten der westlichen Welt angewandt. Er bezeichnete und kategorisierte nicht nur eine Vielfalt vereinzelter Symptome und wiedererkennbarer Krankheiten, sondern definierte auch die therapeutische Ausrichtung und die Parameter für Versuche auf diesem neuen medizinischen Spezialgebiet. Die in Pirquets Entwurf enthaltene dynamische und ganzheitliche Auffassung von Krankheitsprozessen diente – unter Hervorhebung der zentralen Bedeutung der biologischen Reaktionsfähigkeit bei menschlichen Krankheiten – insbesondere dazu, Heuschnupfen und Asthma nicht mehr nur mit Orts- und Klimawechsel zu behandeln, sondern auch durch die Beeinflussung von immunologischen Reaktionen auf spezifische und identifizierbare Allergene. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich die Allergologen, wie sie später heißen sollten, beiderseits des Atlantiks überwiegend auf die Entwicklung und Perfektionierung einer neuen Behandlungsmethode, die allgemein Impftherapie, Desensibilisierung oder Allergen-Immuntherapie genannt wurde. Sie zielte darauf ab, anfällige Patienten widerstandsfähiger gegen allergene Fremdstoffe zu machen.

Wenn Clemens von Pirquets Einsichten eindeutig eine solide semantische und konzeptuelle Grundlage zur Spezialisierung boten, so wurde die Erarbeitung neuer Behandlungsmethoden und die Schaffung eines neuen Spezialgebietes ebenso deutlich von einer ganzen Reihe zeitgenössischer Interessen geprägt. Genau wie Pirquets ursprüngliche Allergieauffassung verdankt die Impftherapie ihr Entstehen im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in erster Linie der klinischen Konzentration auf Infektionskrankheiten, auf die Vakzintherapie sowie auf die Auffassung von Heuschnupfen als ein durch Pollentoxine verursachtes Leiden, jedoch weniger den theoretischen Ausführungen oder Laborstudien über Anaphylaxie und Überempfindlichkeit bei Tieren. In diesem Artikel soll gezeigt werden, wie Anfang des 20. Jahrhunderts die Impftherapie von zwei britischen Ärzten erstmals als eine Behandlungsmethode für Heuschnupfen vorgeschlagen und trotz manchmal heftiger Kritik an ihrer Wirksamkeit und Sicherheit für Ärzte in ganz Europa und Nordamerika zur Hauptstütze der Allergiebehandlung wurde. Im Folgenden werde ich nachzuweisen versuchen, dass die unter Ärzten, Politikern und in der Bevölkerung stetig wachsende Erkenntnis zum steigenden Ausmaß allergischer Krankheiten über Kontinente, Klassen und Kulturen hinweg die Annahme der Desensibilisierung und die Etablierung der klinischen Allergologie als Spezialgebiet in der westlichen Welt begleitet und vielleicht auch erleichtert hat.

1819 veröffentlichte der britische Arzt John Bostock (1773-1846) eine detaillierte Abhandlung über eine „periodische Affektion von Augen und Brust“, worunter er selbst viele Jahre lang gelitten hatte. Sie wäre „jedes Jahr ungefähr Anfang oder Mitte Juni“ aufgetreten und hätte ungefähr zwei Monate gedauert. Das Leiden zeichnete sich durch juckende Augen, eine laufende Nase, krampfartiges Niesen, Atembeschwerden und ein allgemeines Unwohlsein aus. Auch wenn ältere Medizinautoren (wie Rhazes im 10., Jacobus Constant de Rebecque im 17. Jahrhundert und, dessen war sich Bostock bewusst, der berühmte Arzt William Heberden in der Aufklärungszeit) hin und wieder das Vorkommen ähnlicher, vermeintlich vom Duft gewisser Blumen ausgelöster, sommerlicher Symptome erwähnt hatten, wird Bostock allgemein das Verdienst zugeschrieben, die erste exakte klinische Beschreibung einer neuen Krankheit geliefert zu haben, die manchmal zu seinen Ehren als „Bostocks Katarrh“ bezeichnet wird.

Wie Bostock richtig erkannte, war das von ihm beschriebene Leiden nicht weit verbreitet. Neun Jahre später war er jedoch in der Lage, einen ausführlicheren Bericht über die in weiteren 28 Fällen beobachteten klinischen Merkmale des von ihm so benannten „Catarrhus aestivus oder Sommerkatarrh“ vorzulegen. Doch unter Ärzten und in der Öffentlichkeit wurde immer öfter vom „Heuschnupfen“ gesprochen. Nach Bostocks Meinung wurden die Symptome nicht wie allgemein angenommen von „der Ausdünstung frischen Heus“ herbeigeführt, sondern in erster Linie von großer Hitze und Sonnenschein und von körperlicher Anstrengung. Deshalb riet er in den Sommermonaten zum Aufenthalt in kühleren, frischeren Küstenregionen wie Ramsgate in Südostengland, um das Leiden zu vermeiden oder zu lindern. Nachdem Bostock anerkannt hatte, dass das Leiden als „spezifische Affektion“ erst kürzlich bekannt geworden wäre, ging er davon aus, dass der Heuschnupfen nur „in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten“ auftreten würde und „bei den Armen“ wohl unbekannt wäre.

Heuschnupfen zog bald die medizinische Aufmerksamkeit auf sich. Zu Beginn der 1830er-Jahre erläuterte John Elliotson (1791-1868), Arzt und Gründungspräsident der Phrenological Society (Phrenologische Gesellschaft), die klinischen Grundzüge von Heuschnupfen in einer Reihe von Vorlesungen vor Medizinstudenten am St. Thomas Hospital in London. Nach Elliotson, der erst durch einen seiner Patienten mit diesem Leiden in Berührung gekommen war, wurde Heuschnupfen nicht von Hitze und Sonnenschein verursacht, wie Bostock angenommen hatte, sondern durch „die Grasblüte“. Darüber hinaus erwähnte er die Möglichkeit, dass Heuschnupfen durch den Kontakt mit Tieren hervorgerufen werden könne, wie in einem Fall durch „die Ausdünstung eines Hasen“. Bemerkenswerter ist jedoch, dass Elliotson Bostocks Behauptungen über das klassenspezifische Vorkommen des Leidens anfocht. Obwohl er eingestand, dass „es in den oberen Schichten häufig vorzukommen scheint“, vertrat Elliotson dennoch die Ansicht, dass Heuschnupfen bei den „armen Leuten“ wahrscheinlich häufig als normale Erkältung diagnostiziert und sein Vorherrschen „in den unteren Schichten“ unterschätzt würde.

Auch wenn einige Medizinautoren den Heuschnupfen als „außerordentlich seltenes Vorkommnis“ ansahen, so schien er gegen Mitte des 19. Jahrhunderts besonders in Großbritannien und Nordamerika immer häufiger aufzutreten. Laut Charles Blackley (1820-1900), einem praktischen Arzt und Homöopathen aus Großbritannien, der 1873 eine umfassende Abhandlung zu dem Thema veröffentlicht hatte, könnte das gehäufte Auftreten von Heuschnupfen im viktorianischen England entweder an der „gesteigerten, auf die Krankheit gerichteten Aufmerksamkeit“ liegen, „die dazu geführt hatte, dass auftretende Fälle den Medizinern wesentlich deutlicher bewusst wurden“, oder aber „durch das größere Vorkommen jener Leiden, die zur Vorbereitung oder als Auslöser dienen“. Was auch immer die genauen Ursachen waren, Blackley fiel auf, dass das deutliche Ansteigen von Heuschnupfen sowohl „unter Laien, als auch unter den Mitgliedern des Ärztestandes“ zu einem größeren Interesse geführt hatte.

Die größere Aufmerksamkeit für die klinischen Symptome und die soziale Verteilung von Heuschnupfen tat sich auf verschiedene Weise kund. So wurde insbesondere in Nordamerika das Entstehen von örtlichen Heuschnupfengesellschaften angeregt. Die 1874 gegründete United States Hay Fever Association (Heuschnupfenvereinigung der Vereinigten Staaten) hatte ihren Sitz in Bethlehem, einem renommierten Kurort in den White Mountains von New Hampshire, in den Mitglieder dieser Vereinigung strömten, um den Gefahren des Sommers und den herbstlichen Pollenwolken zu entgehen. Eine ähnliche, im Westen situierte Organisation wurde 1882 in Petosky, Michigan gegründet. Beide Organisationen rühmten sich eines elitären Mitgliederkreises, der sich hauptsächlich aus der Mittelschicht rekrutierte und der gleichermaßen an neuen Forschungen, am Erhalt der reinen Luft in den von wohlhabenden und vornehmen Schichten frequentierten Heuschnupfenkurorten wie an der Etablierung von Heuschnupfen als schickem, ja sogar wünschenswertem Gebrechen interessiert war. Als man herausgefunden hatte, dass Beifußblättriges Traubenkraut die hauptsächlich für herbstliche Heuschnupfenanfälle verantwortliche Pflanze war, setzten sich die amerikanischen Heuschnupfenvereinigungen gemeinsam mit dem Landwirtschafts- und dem Gesundheitsministerium für die Ausrottung dieses ihrer Ansicht nach gewöhnlichen Unkrauts ein.

Heuschnupfen machte nicht nur in den Vereinigten Staaten die praktischen Ärzte neugierig, sondern auch auf dem europäischen Kontinent und ganz besonders in Großbritannien, das von einigen Autoren als „Lieblingsaufenthalt des Heuschnupfens“ bezeichnet wurde. 1859 initiierte der deutsche Arzt Philipp Phoebus (1804-1880) eine umfassende internationale Reihenuntersuchung des Krankheitsverlaufs und der Behandlung von Heuschnupfen, die sich hauptsächlich auf die ethnografische und geografische Verteilung des Leidens konzentrierte.

Phoebus Recherchen, die zu einem ausgedehnten Briefwechsel und zu Berichten in diversen medizinischen Zeitschriften verschiedener Länder führten, flössen 1862 in einen längeren Text über Heuschnupfen ein. Darin behauptete er, wie bereits Bostock vor ihm, Heuschnupfen würde von der „ersten Sommerhitze“ (und insbesondere vom Ozon) verursacht, die einen anfälligen Menschen gefährde, wobei nach seinen Belegen die für das Leiden Anfälligsten angelsächsischer Abstammung waren.

In den 1870er-Jahren, zu der Zeit, als Heuschnupfen zur schicken Krankheit einer gesellschaftlichen Elite wurde, veröffentlichten drei Medizinautoren unabhängig voneinander größere Monografien zu dem Thema. In Nordamerika untersuchten sowohl Morill Wyman (1812-1903) als auch George Beard die Krankheit ausführlich. Laut Wyman, der – wie so viele mit dem Thema befasste Autoren – seit seiner Kindheit an Heuschnupfen gelitten und regelmäßig „Heuschnupfenurlaub“ in den White Mountains gemacht hatte, fielen die Symptome exakt mit dem Blühen von Beifußblättrigem Traubenkraut (Ambrosia artemesiaefolia) zusammen (und wurden eindeutig davon hervorgerufen).

Obwohl Beard Wymans Schlüsse über die zentrale Rolle des Beifußblättrigen Traubenkrautes bestätigte, war er gleichzeitig der Ansicht, Heuschnupfen sei vor allem ein Symptom der „amerikanischen Nervosität“, worunter er eine Art nervöse Erschöpfung verstand, die von den besonderen Belastungen und Beanspruchungen der modernen amerikanischen Zivilisation herbeigeführt würde. Für Beard war Heuschnupfen „im Grunde eine Neurose“, die wie die Neurasthenie von verschiedenen schädlichen Einflüssen des modernen Lebens verursacht wurde.

Zum Beispiel von den neuartigen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten, den vielen „unrhythmischen, unmelodiösen“ Geräuschen der modernen Industrialisierung, von einem ausgedehnteren Handel und vom Fortschritt der Forschung, von der Klimaveränderung, von häuslichen und finanziellen Problemen, von der besseren Bildung und Geistesaktivität der Frauen und sogar von der größeren Freiheit.

„Moderne Nervosität“, behauptete Beard 1881 beziehungsreich, „ist der Aufschrei des mit der Umwelt kämpfenden Organismus“.

In Großbritannien schlugen sich die sorgfältigen Beobachtungen von Wyman und Beard in den von Charles Blackley durchgeführten Experimenten nieder. Wie vielen seiner Zeitgenossen war Blackley besonders daran gelegen, den genauen Auslöser für Heuschnupfen zu entdecken, woran er selbst viele Jahre gelitten hatte. Die meisten Autoren erkannten an, dass die Veranlagung oder, wie es der britische Arzt Walter Hayle Walshe (1812-1892) nannte, eine „nicht änderbare Nervenidiosynkrasie“ eine wesentliche Rolle dabei spielen müsste. Trotzdem wurde über die genaue Wirkung einer Reihe von potenziellen Auslösern für die einzelnen Heuschnupfenanfälle heftig gestritten. 1859 führte Blackley eine akribisch genaue Versuchsserie zur Klärung dieser Frage durch, wobei ihm seine Patienten sowie der eigene Körper als Versuchsobjekte dienten. So konnte Blackley ältere Annahmen widerlegen, die angenommen hatten, Benzoesäure, Cumarin, verschiedene Gerüche, Ozon, Staub und der Einfluss von Hitze oder Licht würden zu Heuschnupfen führen. Darüber hinaus zweifelte er an der Rolle von tierischen Ausdünstungen, gab jedoch zu, dass noch weitere Forschungen nötig wären. In einer ausführlichen Monografie legte Blackley 1873 seine Erkenntnisse vor und kam zu dem Schluss, dass „alle Arten von Pollen Heuschnupfensymptome auslösen können und dass alle anderen sogenannten Auslöser wenig oder gar nichts mit dem Entstehen der Krankheit zu haben“.

Bemerkenswert an Blackleys Untersuchungen ist die Gründlichkeit, mit der die konkurrierenden Ursachen für Heuschnupfen der Reihe nach beurteilt und verworfen wurden, sowie die Erschaffung neuer Vorrichtungen zum Sammeln, Messen und Verzeichnen der saisonalen Pollendichte in der Luft. Doch obwohl Blackleys Publikation in den Medizinzeitschriften wohlwollend besprochen wurde und sowohl seine Experimente als auch seine Theorien von einigen führenden medizinischen Autoritäten wie dem Hals-, Nasen- und Ohrenspezialisten Morell Mackenzie (1837-1892) befürwortet wurden, konnten Blackleys Zeitgenossen seine Annahme, Pollen wären die einzige unmittelbare Ursache sowohl von katarrhalischem als auch asthmatischem Heuschnupfen, nicht allgemein akzeptieren. So verwiesen einige Autoren auf die Rolle von Mikroorganismen im Nasensekret Heuschnupfenkranker, indem sie sich auf die einflussreichen Keimtheorien jener Zeit bezogen (woraufhin sie von Mackenzie abwertend „fanatische Bakteriomanen“ genannt wurden), und sprachen sich für die lokale Anwendung von Chinin und anderer Arzneien aus.

Außerdem hoben Autoren wie George Beard und der britische Arzt William Young (1843-1900), die Heuschnupfen mit einer kohlenwasserstoffhaltigen Ernährung in Verbindung brachten, auch weiterhin den Einfluss moderner Lebensweisen hervor. 1903 wurde jedoch Blackleys Pollentheorie von den Forschungen William P. Dunbars bestätigt. Nachdem Dunbar die Rolle von Bakterien und auch einer Anzahl weiterer möglicher Auslöser wie Ruß und Staub ausgeschlossen hatte, führten ihn seine Experimente zu dem Schluss, dass man von einer Kombination von idiosynkratischen anlagebedingten und externen Auslösern ausgehen müsse und dass „es eine Gruppe von Leuten gibt, die eine besondere Anfälligkeit für Graspollen aufweisen“. Dunbars Annahme, Heuschnupfen wäre das Ergebnis eines Pollentoxins, ließ ihn ein spezifisches Antitoxin – ähnlich wie gegen Infektionskrankheiten – entwickeln, das im ersten Jahrzehnt des.

Jahrhunderts zu einer wesentlichen Grundlage für die Impftherapie werden sollte. Neben der versuchsweisen Klärung der genauen Ursache für das Entstehen von Heuschnupfen, machten sich Blackley, Beard und Dunbar auch Gedanken über die möglichen Gründe für die Häufigkeit dieser Krankheit in der Gegenwart. Folgt man Blackley, konnte der jüngste Anstieg an Fällen zum Teil auf die in Veränderung begriffenen landwirtschaftlichen Methoden und demografische Entwicklungen zurückgeführt werden. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts, so Blackley, wäre nicht nur der Anteil bebauten Landes stetig größer geworden, sondern man hätte als Viehfutter auch immer häufiger Heu anstelle von Buchweizen angebaut. Die Auswirkungen der größeren Heuproduktion, die ihrerseits auch vom „vermehrten Handel und dem insgesamt größeren Wohlstand und Reichtum“ ausgelöst worden wäre, hätte die Migration in die Städte noch verstärkt. Da er nicht frühzeitig den Graspollen ausgesetzt wäre, hätte der moderne Städter prompt eine Heuschnupfenanfälligkeit entwickelt. Wie Blackley in einem entscheidenden Abschnitt ausführte, der die Vorstellung einer spezifischen De-Sensibilisierung vorwegnahm, wie sie die Mitglieder der Impfabteilung am St. Mary’s Hospital in London später entwickeln sollten, könnte die Tatsache, dass Bauern selten an diesem Leiden litten, teilweise durch „den Erwerb eines gewissen Grades von Unempfindlichkeit“ oder „Immunität“ durch die „dauerhafte Gefährdung“ erklärt werden.

Die zeitgenössischen medizinischen Auffassungen über den Vormarsch des Heuschnupfens sowohl aufgrund steigender Pollenmengen als auch durch deren unterschiedliche Häufigkeit in der Moderne prägten eindeutig die Behandlungsmethoden. Auch wenn einige praktische Ärzte zur Vorbeugung gegen Anfälle dazu rieten, dass verschiedene Substanzen (einschließlich Kokain, Chinin, Arsen, Brechnuss oder Tabakrauch) auf die Nase aufgetragen, eingenommen oder inhaliert werden sollten, wurde von den meisten Autoren des späten 19. Jahrhunderts die „Klimatherapie“ als die wirksamste Taktik gegen den Heuschnupfen empfohlen. Während amerikanische Autoren den Rückzug in „Heuschnupfen-Zufluchtsorte“ in den Bergen empfahlen, zogen es britische Autoren vor, Patienten ans Meer zu schicken, insbesondere wenn das „Seebad auf einer kleinen Insel oder schmalen Halbinsel liegt“, umgeben vom Ozean und daher wahrscheinlich unbelasteter von der pollenschwangeren Landluft. Dieser Ratschlag diente dazu, gewisse Küsten- und Bergregionen als Heuschnupfen-Kurorte in Mode kommen zu lassen und eine Art von Gesundheitstourismus in Gang zu bringen. Wenn eine Reise in die Berge oder an die See sich als unmöglich erwies, wurde Heuschnupfenpatienten empfohlen, sich drinnen aufzuhalten oder sich in die Mitte einer großen, dicht bevölkerten Stadt zu begeben, wo, wie man annahm, Pollen kaum Vorkommen würden.

Auch wenn Blackley, Beard und andere schon im 19. Jahrhundert die Bedeutung von Umweltfaktoren für das Auftreten und Gedeihen des Heuschnupfens erkannten, machten sie für sein Ansteigen dennoch die Veranlagung oder den Grad an Kultiviertheit verantwortlich. Als Bostock 1828 erstmals seine Erkenntnisse publik gemacht hatte, hatte er angedeutet, dass Heuschnupfen überwiegend in der Mittel- und Oberschicht Vorkommen würde. Im Verlauf der folgenden Jahre haben Medizinautoren und Heuschnupfenpatienten gleichermaßen die Verbindung von Heuschnupfen und Klassenzugehörigkeit ständig wiederholt.

Laut Blackley wurde Heuschnupfen immer wieder als „eine aristokratische Krankheit“ angesehen, die besonders in gebildeten Kreisen, genauer unter Theologen und Medizinern, vorherrschen würde: „Auch wenn sie nicht völlig auf die oberen Gesellschaftsschichten beschränkt ist, kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie selten, wenn überhaupt, woanders als bei Gebildeten angetroffen werden kann.“ Ganz ähnlich schloss George Beard aus einer Untersuchung der von ihm so genannten „Neger des Südens“, dass „nervöse Erkrankungen unter Wilden oder Halbwilden oder gar unter Barbaren nicht oder nur sehr selten Vorkommen“ und dass es „lächerlich“ wäre, „Heuschnupfen oder nervöse Dyspepsie bei solchen Menschen“ auch nur in Erwägung zu ziehen.

In einem vor der West London Medico-Chirurgical Society (West- londoner Medizinisch-chirurgische Gesellschaft) gehaltenen Vortrag brachte Sir Andrew Clark (1826-1893), beratender Arzt und emeritierter Professor für Klinische Medizin am London Hospital, den ausgeprägten Charakter des Heuschnupfens auf den Punkt:
Bricht der Heuschnupfen erst einmal aus, so wird seine Verbindung mit dem Nervensystem noch deutlicher, da er den Mann vor der Frau befällt, den Gebildeten vor dem Unwissenden, den Vornehmen vor dem Primitiven, den Höfling vor dem Bauern […]. Er bevorzugt gemäßigte oder heiße Zonen, kommt in der Stadt häufiger als auf dem Land vor, und in jeder Gegend, die er heimsucht, wählt er die angelsächsische oder wenigstens die englischsprechende Rasse als Opfer aus.

Clarks Worte suggerieren, dass angenommen wurde, auch wenn die charakteristischen Heuschnupfenanfälle von Pollen hervorgerufen würden, träte das Leiden nur bei denjenigen auf, die die erforderliche
– häufig ererbte, aber auch durch Bildung und Zivilisation erworbene
– „nervliche Veranlagung“ dazu besäßen. Wie Blackley, Beard und Dunbar erkannten, neigte die Fähigkeit zu Bildung (oder die, so Blackley, „mentale Kultur“) zur Prädisposition für Nervenkrankheiten wie Heuschnupfen, die nicht nur die von Phoebus 1860 im Ansatz erkannte und von Clark zwei Jahrzehnte später bestätigte deutliche geografische und ethnografische Verbreitung des Leidens erklärte, sondern auch sein relativ spätes Auftreten in der Menschheitsgeschichte. „Die Tatsache, dass Wilde und die Arbeiterklasse zivilisierter Länder praktisch frei von Heuschnupfen sind“, schrieb Dunbar 1903, „legt unter anderem nahe, dass wir Heuschnupfen als eine Folge der höher entwickelten Zivilisation ansehen müssen.“ Und Blackley meinte, bei Bauern trüge der Mangel an Bildung und mentaler Kultur in Verein mit einem früheren Pollenkontakt zu einem geringen Vorkommen des Leidens bei.

Zusätzlich würden, so warnte Blackley vorausschauend, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer besseren Bildungsmöglichkeiten nicht nur das Auftreten dieser Krankheit in diesem Zeitraum erklären, sondern auch die zukünftige Heuschnupfenverbreitung befürchten lassen:
Alle diese Umstände berücksichtigend ist es sehr wahrscheinlich, dass Heuschnupfen einst unbekannt war. Ziemlich gewiss ist auch, dass er in letzter Zeit nicht nur sehr viel häufiger vorkam, sondern dass die Erkrankung mit steigenden Bevölkerungszahlen und dem Fortschritt der Zivilisation und Bildung noch häufiger auftreten wird als bisher.

Einige Autoren haben diese Veranlagung, Kultur und Krankheit verbindende Vorstellung sogar noch weitergetrieben. Wie Gregg Mitman nachgewiesen hat, brüsteten sich Mitglieder der amerikanischen Heuschnupfengesellschaften in aller Öffentlichkeit ihres Gebrechens, nicht nur um sich von den unteren Schichten abzugrenzen, sondern auch um definitiv als sensible und wohlhabende Müßiggänger zu gelten. In England schnappte Morell Mackenzie diesen Sermon begierig auf. Mackenzie war beratender Arzt am Londoner Throat Hospital (Halskrankenhaus) und gründete 1887 das Journal of Laryngology und Rbinology. Er war für seinen Sachverstand auf dem Gebiet der Laryngologie bekannt, später jedoch auch für sein katastrophales Versagen, beim preußischen Kronprinzen Friedrich III. Kehlkopfkrebs zu diagnostizieren. Ein Fehler, der zu seinem Ausschluss aus dem Royal College of Surgeons führte.

In einer kurzen, erstmals 1884 veröffentlichten Abhandlung, wiederholte Mackenzie, was inzwischen zu einer geläufigen Vorstellung in der medizinischen Literatur geworden war. So bestand er darauf, dass Heuschnupfen das britische und amerikanische Volk weit häufiger befalle als die Franzosen, Deutschen, Russen, Italiener, Spanier und Skandinavier. In diesem äußerst beunruhigenden Umstand sieht Mackenzie aber „in Wirklichkeit Grund zum Selbstlob, da er auf […] kulturelle und zivilisatorische Überlegenheit gegenüber weniger begünstigten Völkern hinweist“. Ebenso sollte sich der einzelne Fleuschnupfenpatient von der sozialen Verteilung der Krankheit besänftigten lassen:

Heuschnupfenpatienten mögen ein wenig Erleichterung darin finden, dass sich die Krankheit fast ausschließlich auf kultivierte Menschen beschränkt. Da deshalb Niesen im Sommer Hand in Hand geht mit Kultiviertheit, können wir daraus vielleicht schließen, die Anfälligkeit ist umso größer, je höher wir in intellektueller Hinsicht aufsteigen. Daher kann, wie bereits angedeutet, unsere nationale Neigung zum Heuschnupfen als ein Beleg für unsere Überlegenheit anderen Völkern gegenüber angesehen werden.

Unter Bezugnahme auf die zeitgenössischen Kontroversen um die Erziehung und Emanzipation von Frauen, erläuterte Mackenzie ähnlich überheblich die offenkundige geschlechtliche sowie klassen- und rassenspezifische Verteilung von Heuschnupfen. Obwohl einige andere Autoren das von Mackenzie und anderen festgestellte männliche Übergewicht bei der Krankheit bestritten, zweifelte Mackenzie selbst nicht im Geringsten am häufigeren Auftreten von Heuschnupfen unter Männern, einen Umstand, den er spöttisch „der dringenden Aufmerksamkeit der Verfechter einer Gleichheit der Geschlechter“ anempfahl. Indem er frühere Auffassungen bestimmter Krankheiten als modische, wünschenswerte und, besonders wichtig, erbliche Leiden anklingen ließ, beharrte Mackenzie darauf, wenn „diese Vorstellung der engen Verbindung zwischen Heuschnupfen und Kultiviertheit von der öffentlichen Meinung verstanden worden ist, wird das Leiden vielleicht wie die Gicht als Ausweis von Bildung angesehen werden“. Ähnlich wie zuvor die Tuberkulose und die Gicht, wurde der Heuschnupfen so zu einem Ehrenzeichen der zivilisierten, gebildeten und kultivierten Elite.

Dieses anmaßende öffentliche Image des Heuschnupfens als nobles Leiden war es, das gelegentlich Eingang in die zeitgenössische Literatur fand. In dem Roman Howards End (1910), in dem E. M. Förster scharfsinnig die intellektuellen und moralischen Voraussetzungen für die englische Klassengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts zergliedert und zugleich die Brüchigkeit altmodischer, liberal-humanistischer Werte bloßlegt, tritt der Heuschnupfen als die Verkörperung angeborener Kultiviertheit auf. Von Beginn des Romans ist klar, dass sowohl Tibby Schlegel als auch Charles Wilcox, Angehörige der in Müßiggang lebenden Landbesitzerelite, von diesem Leiden befallen sind: „Der Heuschnupfen hatte ihm die ganze Nacht ziemlich zu schaffen gemacht. Sein Kopf tat weh, seine Augen tränten, seine Schleimhäute seien, teilte er ihr mit, in einem äußerst unbefriedigenden Zustand.“ Im Gegensatz dazu ist Leonard Bast, ein kleiner Versicherungsangestellter, dessen sich Tibbys Schwester annimmt und der stirbt, als im Verlauf eines Streits mit Charles ein Bücherregal auf ihn stürzt, frei von diesem Lei-den. Durch Försters Gestaltung der schicksalhaften Natur von Heuschnupfen bleibt Bast auf seine gesellschaftliche Stellung beschränkt und dauerhaft aus den Rängen der kultivierten „Hayfeverites“ (wie man sie in Amerika nannte) ausgeschlossen, all seiner Anstrengungen, durch Weiterbildung gesellschaftlich aufzusteigen, ungeachtet.

In mancher Hinsicht führen seine Bemühungen sogar zu seinem Untergang, da er buchstäblich von den menschlichen und materiellen Trägern jener Kultur getötet wird, an der er so gerne teilhaben möchte. Für Försters elitäre Protagonisten kann durch Bildung erworbene Kultiviertheit niemals „die Kluft überbrücken, die zwischen dem natürlichen Menschen [d. h. dem Menschen aus der Unterschicht] und dem philosophischen Menschen klafft“.

So gesehen war der Heuschnupfen ein Symbol für eine angeblich gottgewollte Einteilung in Klassen und diente dazu, in sachlich-biologischen Begriffen die vom Prozess der Industrialisierung ebenso errichteten wie infrage gestellten sozialen und politischen Abgrenzungen deutlich zu machen. Wie Morell Mackenzie einige Jahre zuvor vermutet hatte, „wird zweifellos bald angesichts einer Rose das Vorhandensein oder die Abwesenheit eines Niesreizes zu einem sichereren Prüfstein als der Buchstabe h werden, um die Erwählten von der gewöhnlichen Masse scheiden zu können“.

Bemerkenswert ist, dass die meisten Medizinautoren des 19. Jahrhunderts Heuschnupfen regelmäßig mit Asthma in Verbindung brachten, lange bevor beide Leiden als Allergien angesehen wurden. Der Begriff Asthma selbst hat eine viel ältere Geschichte als Heuschnupfen, die bis zu Medizintexten der Antike zurückreicht. In der hippokratischen, Galen’schen und chinesischen Überlieferung stand Asthma lediglich für eine Form der Dyspnoe oder Atemnot bzw. Kurzatmigkeit. Charakterisiert durch Keuchen oder Schnaufen oder wie es der römische Stoiker Seneca ausgedrückt hat, durch „eine Art von dauerhaftem ,letztem Atemzug“, wurde Asthma für gewöhnlich einem Ungleichgewicht der Säfte zugeschrieben. Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte unterstützten vereinzelte Abhandlungen von Ärzten diesen Gebrauch des Begriffes, fingen aber gleichfalls an, die antiken Auffassungen von der Ätiologie und Pathologie von Asthma infrage zu stellen. Im 17. Jahrhundert richteten Untersuchungen des Belgiers John van Helmont (1577-1644) und zweier englischer Ärzte, Thomas Willis (1621-1675) und John Floyer (1649-1734), nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Lunge als organischen Sitz der Krankheit, sondern sie identifizierten auch besondere Auslöser von Asthmaanfällen, wie zum Beispiel Staub, Federn, Tabakrauch, gewisse Nahrungsmittel, körperliche Anstrengung und Aufregung, und machten sich Gedanken über das Auftreten von Asthma bei mehreren Mitgliedern derselben Familie.

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde eine Reihe neuartiger Instrumente und Methoden zur Untersuchung von Patienten und zur Diagnose von Krankheiten in die klinische Praxis eingeführt: 1761 durch Leopold Auenbrugger das Abklopfen der Brust, 1819 durch Rene-Theophile-Hyacinthe Laennec das Abhorchen mit einem Stethoskop und 1846 das Spirometer.

Zusammen mit dem Entstehen einer gewissenhafteren pathologischen Anatomie erleichterten diese Verfahren die schrittweise Unterscheidung nicht nur von Asthma als eigenständigem Lungenleiden und den eher allgemeinen Symptomen der Dyspnoe, sondern auch von den immer wieder in medizinischen Abhandlungen beschriebenen Formen des Nieren-, Herz- und Bronchienasthmas. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die Medizin asthmatische Symptome immer stärker mit der Lunge in Verbindung brachte, wurde dafür plädiert, den Gebrauch des Begriffes ,Asthma1 auf die bronchiale Form zu beschränken, die entweder als krampfartiger oder lähmender Zustand und oft zusammen mit Heuschnupfen auftrat.

Im 19. Jahrhundert rief das größere Interesse am Asthma bronchiale, das sich insbesondere in den Monografien und Artikeln des britischen Arztes Henry Hyde Salter (1823-1871) niederschlug, ein neues Verständnis für die Ätiologie und Pathogenese hervor, das eindeutig von zeitgenössischen Krankheitsauffassungen geprägt war. Vor allem Asthma wurde ähnlich wie Heuschnupfen als eine ererbte Neuroseart angesehen, bei der die „tonische Kontraktion der Radiärmuskelfasern“ eine Blockierung der kleinen Bronchien bewirken würde. Genauere pathologische Untersuchungen in den Laboren europäischer Wissenschaftler und Kliniker führten zu charakteristischen histologischen Funden, nämlich zu den von Jean Charcot (1825-1893) und Ernst von Leyden (1832-1910) identifizierten farblosen Kristallen sowie den zuerst von Heinrich Curschmann (1846-1910) bemerkten Spiralen, die beide im Auswurf vieler Asthmapatienten vorhanden sind. Noch bezeichnender ist, dass sich auch die sozialen Kennzeichen der Krankheit veränderten. Wie John Gabbay erkannte, hatten einige Autoren des 18. Jahrhunderts, wie der schottische Arzt John Millar (1733-1805), Asthma als eine in erster Linie Handwerker befallende Krankheit angesehen. Auch wenn der englische Chirurg Thomas King (1809-1847) und andere weiterhin Argumente abtaten, die die gesellschaftliche Stellung und modische Lebensführung anprangerten, so wurde Asthma im 19. Jahrhundert wie der Heuschnupfen zu einer Krankheit der Oberschicht, die nur selten auf Armenstationen zu finden war, dafür aber in schöner Regelmäßigkeit von Ärzten bei der geistigen Elite festgestellt und behandelt wurde.

Wie im Falle von Heuschnupfen können die sozialen Konturen von Asthma sehr wohl Einfluss auf die Hauptbehandlungsmethoden – wie die Klimatherapie in Seebädern oder in kontinentalen Luftkurorten in den Bergen – gehabt haben, die sich nur Reiche leisten konnten. Auch wenn das Streben nach frischer, sauberer Luft im gesamten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa sowie in Amerika weit verbreitet war, rieten die Ärzte auch zu einer Reihe anderer äußerlicher und innerer Behandlungsmethoden, die dazu gedacht waren, den nervösen Spannungszustand zu lindern und den bronchialen Reizungen entgegenzuwirken. Weil es „ungewollte Muskelbewegungen auslösen und Krämpfe hervorrufen konnte“, war Henry Hyde Salter gegen die Anwendung von Opium, empfahl aber dennoch im Handel befindliche, gebräuchliche Linderungsmittel, die er danach einteilte, ob sie dämpfend, stimulierend oder beruhigend wirkten.

So zum Beispiel Tabak, Brechweinstein, Brechwurzel, Kaffee, Chloroform, medizinische Zigaretten, besonders solche, die Stramonium und Belladonna enthielten, indischen Hanf oder Cannabis, Äther und Lobelie. In der Folgezeit fügten andere Mediziner, wie Walter Walshe, William Osler und John Thorowgood (1833-1919), dieser Liste ihre eigenen Präparate hinzu. Doch Salters Behandlungsmethode sowie seine Spezialpräparate dominierten weiterhin die Asthmatherapie der meisten westlichen Länder, und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren sie eine ergiebige Einkommensquelle für die Hersteller gesetzlich geschützter Medikamente.

Welchen Einfluss Asthma auf das Leben der Kranken hatte und welche Mengen von Medikamenten zu jener Zeit gegen das Leiden eingenommen wurden, kann an Leben und Werk des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922) aufgezeigt werden, dessen von 1913 bis 1927 veröffentlichter siebenbändiger Romanzyklus Alarecberche du temps perdu schnell zu einem literarischen Klassiker wurde. Als Sohn eines römisch-katholischen Arztes und einer jüdischen Mutter erlitt Proust seinen ersten schweren Asthmaanfall mit neun Jahren und wurde sein Leben lang immer wieder von dieser Krankheit geplagt. 1919 schrieb er, „ein anhaltender Asthmaanfall“ hätte ihn „in den letzten Tagen unfähig auch nur zur kleinsten Bewegung“ gemacht.

Im folgenden Jahr erklärte Proust in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Marcel Boulenger, er habe einige Tage lang „so heftig nach Luft geschnappt“, dass das Schreiben schwierig geworden wäre. Zusätzlich zu Kuraufenthalten an der Küste versuchte Proust die Krankheitssymptome mit vielerlei Behandlungsmethoden zu lindern, die ihm fast alle in einem speziell für seine „Ausräucherungen“ abseits gelegenen Rauchzimmer verabreicht wurden. Insbesondere wurden Stramonium- oder Espic-Zigaretten, Pulver von Legras oder Escouf- laire, Ephinephrin, Koffein, Karbolsäureausräucherungen, Isolierung, Autosuggestion, Morphium und Opium angewandt. Letzteres wurde Mitte des 19. Jahrhunderts auch von Charles Dickens (1812-1870) zum selben Zweck eingesetzt. Auch wenn diese Präparate und psychologischen Strategien Prousts Zustand verbessert haben mögen, der generell wie so vielen seiner Krankheiten der engen Mutterbindung zugeschrieben wurde, so waren sie doch außerstande, eine Heilung herbeizuführen, und Proust litt Zeit seines Lebens sowohl an Asthma als auch an Heuschnupfen.

Bezeichnend: Das Wissen, dass führende Schriftsteller wie Dickens und Proust an Asthma und Heuschnupfen litten, diente den Zeitgenossen als Beweis dafür, dass diese Krankheiten eng miteinander in Zusammenhang stehen und am häufigsten in den kultivierten und gebildeten Schichten der westlichen Welt auftreten würden. So beförderte Clemens von Pirquets Allergieauffassung im frühen 20. Jahrhundert zwar sofort neue Erkenntnisse über die Ätiologie dieser altbekannten Leiden, doch bestätigte die Betonung einer gemeinsamen Pathologie auch den Zusammenhang zwischen Heuschnupfen, Asthma und einer Reihe von Idiosynkrasien wie Urtikaria, Ekzemen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Mit seinem geschickten Erklärungsansatz und der ebenso passenden Terminologie dieser anscheinend eigenständigen Gruppe von Krankheiten legte Clemens von Pirquet den Grund für die Entwicklung des neuen medizinischen Spezialgebietes der klinischen Allergologie.

Aber auch andere Umstände beförderten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Entstehen der Allergologie als eigenständige medizinische Disziplin und die Einrichtung von Allergiekliniken sowohl in Europa als auch in Nordamerika. In erster Linie wird das Interesse an allergischen Leiden von der frühen klinischen und psychologischen Erforschung von Idiosynkrasien und, noch spezieller, von den Berichten über die steigende Zahl von Heuschnupfenerkrankungen angetrieben worden sein. Zusätzlich kann das größere klinische Interesse an Heuschnupfen und Asthma Resultat der größer werdenden Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Einfluss chronischer Krankheiten und auch der genaueren Erfassung von Erkrankungs- und Sterblichkeitsraten gewesen sein. Vor diesem Hintergrund ist von Bedeutung, dass Heuschnupfen in den 1930er-Jahren in den Vereinigten Staaten die vierthäufigste chronische Krankheit und damit zugleich ein größeres volksgesundheitliches Problem darstellte.

Das Entstehen der klinischen Allergologie wurde jedoch ganz unmittelbar von der Erfindung und Verbreitung einer neuartigen Behandlungsmethode unterstützt, die wie die Allergieauffassung selbst der zeitgenössischen Konzentration auf die gegen Infektionskrankheiten eingesetzte Vakzin- und Serumtherapie ihr Entstehen verdankte. Die Desensibilisierungs- oder therapeutische Impfung mit Pollenextrakten oder anderen Allergenen, die zuerst in der Impfabteilung des St. Mary’s Hospital in London entwickelt worden war, sollte die Allergiebehandlung fast im gesamten 20. Jahrhundert dominieren. Sie verdrängte rasch die Klimatherapie als Behandlungsmethode gegen Heuschnupfen und Asthma und überstand auch die starke Konkurrenz einer Reihe im großen Maßstab hergestellter und vertriebener Medikamente, wie zum Beispiel den Antihistaminen.

Von 1911 an, nachdem Leonard Noon zum ersten Mal die Ergebnisse seiner klinischen Studien veröffentlicht hatte, konzentrierte sich die Behandlung von Heuschnupfen, Asthma und verwandten allergischen Erkrankungen hauptsächlich auf die Manipulation der spezifischen biologischen Reaktionsfähigkeit und nicht so sehr auf die Veränderung der Umwelt, in der gelebt und gearbeitet wurde.