Start Geschichte der Allergien Clemens von Pirquet und die Geburt der Allergien – Seltsame Reaktionen

Clemens von Pirquet und die Geburt der Allergien – Seltsame Reaktionen

1688

Clemens von Pirquet und die Geburt der Allergien
Clemens von Pirquet wurde am 12. Mai 1874 in Hirschstetten bei Wien geboren. Sein Vater, ein belgischer Aristokrat und österreichischer Großgrundbesitzer, war ein begeisterter Dichter und Autor von Schauspielen. Seine Mutter, eine gläubige Katholikin, war Tochter eines vornehmen Wiener Bankiers. Nachdem er zunächst daheim von einem Hauslehrer und später in verschiedenen Schulen in und um Wien unterrichtet worden war, studierte Clemens von Pirquet Theologie an der Innsbrucker Universität und Philosophie an der Universität im belgischen Löwen, in der Absicht Priester zu werden. Doch kurz nach seiner Graduierung wandte er sich von der Theologie ab und schrieb sich an der Universität von Wien ein, um Arzt zu werden. Das war in hohem Maße gegen die Wünsche seiner Familie, die Medizin als eine unpassende Beschäftigung für einen jungen Aristokraten ansah.

Nach einem Jahr in Wien studierte er im preußischen Königsberg (wo sein Cousin und Schwager Professor für Chirurgie war) und in Graz, wo er 1900 zum Doktor promoviert wurde. Vielleicht beeinflusst von Theodor Escherich, Professor für Kinderheilkunde in Graz, und wahrscheinlich angetrieben von seinem aufkeimenden Interesse an infektiösen Kinderkrankheiten, beschloss Pirquet nach sechs Monaten als Regimentsarzt, sich auf Kinderheilkunde zu spezialisieren. Zunächst arbeitete er in Berlin unter Otto von Heubner, bevor er 1901 sein Referendariat und seine Assistenzzeit an der Universitätsklinik in Wien antrat, welche damals von Escherich geleitet wurde.

In Pirquets Privatleben lief offenbar nicht alles so glatt. 1904 heiratete er Maria Christine von Husen, eine junge Deutsche, die er in Berlin kennengelernt hatte. In der Annahme, Clemens hätte unter seinem Stand gefreit, weigerte sich der größte Teil seiner Familie, an der Hochzeit teilzunehmen und schnitt seine Frau. Die Eheschließung verschärfte zusätzlich die durch die Berufswahl entstandenen Spannungen mit seinen Geschwistern. Diese verstärkten sich nach 1912, als es zu rechtlichen Streitigkeiten wegen des unter den sieben Kindern aufgeteilten mütterlichen Grundbesitzes kam, der eigentlich im österreichischen Adel an den ältesten Sohn allein fiel. Seinem Biografen zufolge, der zusammen mit ihm an der Wiener Kinderklinik gearbeit hatte, war Pirquets Ehe schwierig. Maria litt an einer Reihe von körperlichen und seelischen Beschwerden, einschließlich einer fortschreitenden Abhängigkeit von Barbituraten, und nach einer missglückten gynäkologischen Operation konnte sie keine Kinder bekommen. Obwohl die Familie seine Frau ablehnte und den Kollegen und Freunden die Spannungen seines Ehelebens immer stärker auffielen, waren Clemens und Maria sich bis zu ihrem gemeinsamen Selbstmord 1929 liebevoll zugetan.

Trotz seines Privatlebens wurde Pirquet sowohl für seine wissenschaftliche Forschung als auch für seine Beiträge zur medizinischen Heilkunde beträchtlicher beruflicher Erfolg und Anerkennung zuteil. Von Anbeginn der Berufslaufbahn interessierte sich Pirquet für immunologische Probleme. Angeregt von Max Gruber (1835-1927), Professor für Hygiene an den Universitäten in Wien und München, der meinte, „eine Untersuchung der Inkubationszeit würde einen wichtigen Schlüssel für das Immunitätskonzept liefern“,26 untersuchte Pirquet die zeitlich begrenzten Symptome der Serumkrankheit, wobei er auch deutlich von dem zeitgenössischen Interesse am Kinderwachstum beeinflusst war. Sein Hauptinteresse galt dabei der Antigen-Antikörper-Wechselwirkung und der Bedeutung von Inkubationszeiten beim natürlichen Verlauf von Kinderkrankheiten und Impfreaktionen. Und gemeinsam mit Gruber veröffentlichte Pirquet Artikel, die Paul Ehrlichs Auffassung der Neutralisierung von Toxinen durch Antitoxine anzweifelte.

Entscheidender im Rahmen dieses Buches ist jedoch, dass Pirquet durch die Untersuchung der Inkubationszeiten die traditionellen Ansichten über die Rolle von Mikroorganismen und ihrer Toxine bei Krankheiten infrage stellte. 1903 behauptete er in einer ersten Abhandlung zur Theorie von Infektionskrankheiten, dass die wesentlichen Krankheitssymptome (Fieber, Hautausschläge, ein Ansteigen weißer Blutkörperchen und andere wesentliche Symptome und Anzeichen) nicht nur von der Tätigkeit der eindringenden Bakterien abhängig wären, sondern auch von der Fähigkeit des Körpers, Antikörper zu entwickeln, die auf diese Bakterien und ihre Toxine reagieren würden. Seine Schlussfolgerungen waren verblüffend:
1. Die Dauer der Inkubationszeit hängt nicht nur vom Fremdstoff ab, sondern auch von dem fraglichen Organismus.
2. Die Krankheitssymptome treten in dem Augenblick auf, wenn der Organismus auf den Auslöser reagiert.
3. Die erlangte, beständige Immunität liegt in der Fähigkeit des Organismus begründet, Antikörper schneller als zuvor erzeugen zu können, was zu einer entsprechend kürzeren Inkubationszeit führt.

Pirquets Theorie gehörte eindeutig nicht zu der Hauptströmung pathologischen Denkens jener Zeit. Im Allgemeinen fassten Kliniker und Pathologen Krankheit als das Eindringen einer feindseligen Substanz in einen Wirt auf und stellten sich den darauf folgenden Krankheitsverlauf als einen Kampf zwischen den externen Aggressoren (Bakterien und ihre Toxine) und internen Verteidigungsmechanismen (weiße Blutkörperchen und Antikörper) vor. Auch wenn Pirquets Theorie von der Pathogenese akuter Infektionskrankheiten und Impfreaktionen, bei der der Körper selbst wesentlich beteiligt war, eine Abkehr vom herrschenden Paradigma darstellte, war sie nicht ganz neu. 1881 hatte Jonathan Hutchinson in einer Vorlesungsreihe am Royal College of Surgeons (Königliche Hochschule für Chirurgen) in London auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass man individuell verschiedene Krankheitsverläufe in Betracht ziehen müsse, und hatte die Gefahr betont, „alles mit externen Einwirkungen erklären zu wollen“.

Wie jüngst Untersuchungen von Ohad Parnes und llana Löwy gezeigt haben, wurde die Pathologie auch von vielen Klinikern und Wissenschaftlern um 1900 eher in dynamischen und ganzheitlichen Begriffen aufgefasst und mit Nachdruck darauf verwiesen, dass auch Reaktionen des Wirtes an den Krankheitssymptomen beteiligt wären. So war für den Histologen und Neuropathologen Carl Weigert (1845-1904) der direkt von einem eindringenden Organismus verursachte Schaden oft minimal, verglichen mit den im Wirt ausgelösten Entzündungsvorgängen. Und für Weigert und seine Anhänger war fast jedes pathologische Problem „zuallererst ein Prozess der Selbstzerstörung“ oder dessen, was Weigert den „Schiwaeffekt“ nannte. Ähnliche Ansichten vertrat die polnische Richtung von Pathologen und Medizinphilosophen, angefangen bei Tytus Chalubinski (1820-1889) bis hin zu Ludwik Heck. Bestrebt, statische, reduktionistische medizinische Ansätze zu widerlegen und die ihrer Ansicht nach naiven Darstellungen der Pathogenese zu hinterfragen, entwickelten Chalubinski und seine Anhänger eine dynamische, ökologische Vorstellung von Krankheit, die sowohl die Komplexität pathologischer Phänomene als auch die zentrale Rolle der individuellen physiologischen Reaktionsfähigkeit betonte.

Pirquets Auffassung der Rolle biologischer Reaktionsfähigkeit bei der Pathologie von Menschen stützte sich auf seine weitreichenden Kenntnisse des natürlichen Verlaufs akuter Infektionskrankheiten und auf seine akribischen Untersuchungen von Impfreaktionen. Auch beeinflussten und schulten ihn seine Beobachtungen der Wirkung antitoxischer Seren bei Kindern, die in den Wiener Kinderkliniken gegen Scharlach oder Diphtherie behandelt wurden. Indem sie sich einmal mehr auf die zeitlich begrenzten medizinischen Symptome konzentrierten, konnten Pirquet und sein ungarischer Mitarbeiter Bela Schick beweisen, dass die Serumkrankheit einige bekannte pathologische Züge aufwies. So konnten sie belegen, dass es nach der Serumbehandlung zu ähnlichen Symptomen wie bei Infektionskrankheiten kam: Zwischen der Injektion und dem Auftreten von Symptomen lag eine Reproduktions- oder Inkubationszeit und nachfolgende Injektionen (ähnlich einer zweiten Infektion) führten zu schnelleren und schwereren Reaktionen. Pirquet und Schick schlossen daraus, die klinischen Symptome der Serumkrankheit würden nicht sofort von dem Antiserum hervorgerufen, sondern wären das Resultat einer Überempfindlichkeitsreaktion nach dem Zusammenprall von Antigen und Antikörper. Erstmals veröffentlichten sie mit ihren Untersuchungsergebnissen – 190333 kurz und 190534 ausführlicher in Buchform – die Idee einer engen, wenn auch scheinbar widersprüchlichen Beziehung zwischen Immunität und Überempfindlichkeit.

Die Auffassung, dass die Antikörper, welche vor der Erkrankung schützen sollen, auch Krankheit bedingen, klingt im ersten Augenblicke absurd. Dies hat seinen Grund, weil wir gewohnt sind, in der Erkrankung nur die Schädigung des Organismus und im Antikörper lediglich antitoxische Substanzen zu sehen. Man vergisst zu leicht, dass die Krankheit nur ein Stadium in der Entwicklung der Immunität darstellt, und dass der Organismus vielfach nur auf dem Wege der Erkrankung zum Vorteile der Immunität gelangt.

Diese am Krankenbett gemachten Beobachtungen einzelner, jedoch miteinander in Zusammenhang stehender klinischer Phänomene waren es, die Pirquet auf die Spur brachten und den Anstoß zur Erarbeitung seines Allergiekonzeptes gaben. In einem kurzen, 1906 in der Münchener Medizinischen Wochenschrift veröffentlichten Beitrag bot Pirquet eine geschickte Deutung der biologischen Reaktionsfähigkeit, die die offenkundigen Unterschiede der Immunität und der Überempfindlichkeit in Einklang brachte. Und auch die unvereinbaren Beobachtungen von Anaphylaxie, über die experimentelle Physiologen berichtet hatten und die auch in Krankenhäusern bei der Serumkrankheit gemacht worden waren, Beobachtungen, die seiner Ansicht in den „Bereich der Immunitätslehre gehören, aber unter diesen Namen schlecht passen“, konnten so erklärt werden. Indem er die Werke Richets, Rosenaus, Andersons, Behrings und anderer sowie seine eigenen, mit Schick erarbeiteten Studien zitierte, (die gemeinsam die Möglichkeit einer „Überempfindlichkeit am immunisierten Organismus“ nahelegen würden), stellte Pirquet die seiner Meinung nach zentralen Fragen: „Sind aber wirklich Immunität und Überempfindlichkeit mit einander verbunden, oder sind die Prozesse, bei denen Vorbehandlung Immunität verursacht, von jenen abzutrennen, wo sie zur Überempfindlichkeit führt?“

Obwohl Pirquet einräumte, die „beiden Begriffe schreien gegeneinander“, so betonte er dennoch die Parallelen von Immunität und Überempfindlichkeit, besonders hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Reaktion bei der ersten und der zweiten Injektion des Antigens. Um weitere Untersuchungen der genauen immunologischen Charakteristika der Überempfindlichkeit und der Immunität zu befördern, versuchte Pirquet das Verständnis für diese verschiedenen Äußerungen biologischer Reaktionsfähigkeit zu vereinfachen, indem er „ein neues, allgemeines […] Wort für die Zustandsveränderung, die ein Organismus durch die Bekanntschaft mit irgendeinem organischen, lebenden oder leblosen Gift erfährt“, vorschlug.

Für diesen allgemeinen Begriff der veränderten Reaktionsfähigkeit schlage ich den Ausdruck Allergie vor […]. Der Geimpfte, der Tuberkulöse, der mit Serum Injizierte werden den respektiven Fremdsubstanzen gegenüber allergisch […]. Die Bezeichnung Immunität soll auf jene Prozesse beschränkt werden, wo die Einbringung der fremden Substanz in den Organismus gar keine klinische Reaktion gibt, wo also eine vollkommene Unempfindlichkeit vorhanden ist.

Pirquet erkannte sowohl die Folgen für Laborversuche als auch für die Praxis, die seine Auffassung der biologischen Reaktionsfähigkeit haben würde. So verband er seine Neuformulierung der immunologischen Reaktionsfähigkeit oder Allergie insbesondere mit den traditionellen klinischen Auffassungen von der Idiosynkrasie. Damit ebnete er zugleich den Weg für ein neues Verständnis einer Reihe bereits bekannter, aber auch scheinbar neuer Leiden. Zu den Allergenen werden auch die Gifte der Mücken und Bienen zu rechnen sein, insoweit hiernach Erscheinungen von Unter- oder Überempfindlichkeit auftreten. Aus diesem Grund werden wir auch die Pollen des Heufiebers (Wolff-Eisner), die Urtikaria erzeugenden Substanzen der Erdbeeren und Krebse, wahrscheinlich auch eine Reihe organischer Substanzen, welche zu Idiosynkrasien führen, unter diesem Namen vereinigen können.

Nachdem er einen vorläufigen Rahmen für seine neue Theorie von Krankheiten abgesteckt hatte, untersuchte Pirquet in einer 1911 veröffentlichten Monografie die klinischen Parameter der Allergie ausführlicher. 1909 hatte er es abgelehnt, am Pariser Pasteur-Institut zu arbeiten, hauptsächlich, weil mit diesem Posten keine Krankenhaustätigkeit verbunden war. Stattdessen hatte er vorgezogen, einen Ruf als leitender Professor für Pädiatrie an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore anzunehmen, doch blieb er nur ein Jahr in Nordamerika. 1910 ging er an die Universität von Breslau und im folgenden Jahr kehrte er als Nachfolger seines Mentors Escherich als Professor für Pädiatrie an die Wiener Kinderklinik zurück. Obwohl er in Amerika nicht besonders produktiv gewesen zu sein scheint, verfasste er zwei lange Aufsätze über die Allergie, die 1911 von der American Medical Association (Amerikanische Medizinische Vereinigung) als Buch veröffentlicht wurden.

Sowohl der Text seiner Monografie von 1911 als auch die diesen begleitenden Illustrationen, die das Problem biologischer Reaktionsfähigkeit grafisch darstellen, lassen die charakteristischen Züge von Pirquets kluger, 1906 in Rohform skizzierter Auffassung der immunologischen Reaktionsfähigkeit deutlich werden. Erstens, sein großes Interesse an der scheinbar paradoxen Beziehung zwischen Immunität und Hypersensibilität blieb bestehen. Zweitens, sein Hauptinteressegalt weiterhin dem Aufspüren der exakten zeitlichen, qualitativen und quantitativen Aspekte der verschiedenen Arten veränderter Reaktionsfähigkeit, was ihm ermöglichte, diverse klinische und experimentelle Beobachtungen miteinander zu vergleichen und zu differenzieren.

Und schließlich, die weitreichende klinische Bedeutung von Allergie hob er auch jetzt ausdrücklich hervor. Obwohl sich ein Großteil des Textes mit Serumkrankheit, Impfreaktionen und experimenteller Anaphylaxie bei Tieren als paradigmatischen Allergieformen widmete, dachte Pirquet auch über die Rolle veränderter immunlogischer Reaktionsfähigkeit bei Urtikaria, Nahrungsmittelidiosynkrasien und Heuschnupfen nach. Darüber hinaus stellte Pirquet, genau wie Hutchinson Jahre zuvor hinsichtlich der Idiosynkrasie, Vermutungen über die Beteiligung von Allergien an der Symptomatologie verschiedener Infektionskrankheiten wie Syphilis, Scharlach und Tuberkulose an.

Auch über die möglichen, an der Pathogenese dieser Krankheiten vermutlich beteiligten Mechanismen machte sich Pirquet 1911 intensiv Gedanken, wobei er sich sowohl auf seine klinische Erfahrung als auch auf die Ergebnisse von Tier- und Menschenversuchen stützen konnte. So unterzog er die zeitgenössischen Kontroversen über das Wesen der sensibilisierenden Substanz (oder des Allergens) einer kritischen Prüfung, fasste die Belege zusammen, die auf eine spezifische „Serumallergie“ hindeuteten, und erörterte die eine passive Übertragung von Anaphylaxie nachweisenden Versuchsergebnisse. Auch wenn die exakte Natur und Wirkungsweise der verantwortlichen Serumfaktoren schleierhaft blieb, war Pirquet überzeugt, die meisten Allergien würden von speziellen Antikörpern ausgelöst, die auf irgendeine Art mit dem Allergen interagieren würden. Die logischen Folgerungen dieser Hypothese, die seinen eigenen früheren Überlegungen über die pathogenetische Bedeutung der Reaktionsfähigkeit des Wirtes ziemlich nahe kamen, entgingen Pirquet nicht.

Diese Erklärung umfasste auch ein ganz neues Antikörperkonzept. Bis dahin wurden Antikörper zu den schützenden Substanzen gezählt, was dieser Annahme konträr gegenübersteht. Das Diphtherieantitoxin wurde als ein typischer Antikörper aufgefasst. Die Tätigkeit dieses Antitoxins bestünde darin, das Antigen vollkommen zu neutralisieren, d. h. das Diphtherietoxin. Laut meiner Hypothese bilden diese anderen Antikörper aber zusammen mit dem Antigen eine neue toxische Substanz. Das prinzipiell neue an dieser Auffassung ist, dass ein Antikörper indirekt an einer Krankheit schuld sein könnte. Eine Vorstellung, gegen die die Anhänger von Ehrlich, wie zum Beispiel Kraus, damals lautstark Einwand erhoben.

Wie Pirquets Worte erkennen lassen, wurde seine Auffassung von Immunität und Überempfindlichkeit von vielen seiner Zeitgenossen nicht gut aufgenommen. Diese neigten dazu, die Ergebnisse akribischer Laborstudien höher zu bewerten, als die durch klinische Beobachtung am Krankenbett gewonnenen Einsichten. In erster Linie lehnten diese Kritiker vehement Pirquets Terminologie ab. Indem er seine eigene Auffassung der an der Anaphylaxie beteiligten Vorgänge propagierte, verdammte Charles Richet die Einführung dessen, was er als überflüssigen neuen Begriff ansah. Auch andernorts wurde Richets Ablehnung des Begriffes ,Allergie* aufgegriffen. Als Pirquets Buch 1911 in der Lancet besprochen wurde, bemerkte ein Kritiker, der Begriff sei „keine glückliche Kombination“, und hob hervor, zur Bezeichnung erhöhter Anfälligkeit auf Fremdstoffe sei bereits von Richet das Wort Anaphylaxie* geprägt worden. Einige Jahre später brachten die beiden führenden amerikanischen Immunologen Robert A. Cooke (1880-1960) und Arthur F. Coca (1875-1959) in ihrem sorgfältigen Versuch einer Klassifizierung von Überempfindlichkeitsphänomenen ihre Unzufriedenheit mit dem Wort ,Allergie* zur Bestimmung klinischer Zustände zum Ausdruck, da das Festhalten an Pirquets ursprünglicher Definition „Phänomene unterschiedlichster Natur“ nebeneinander stellen würde und sie durch diese „Verknüpfung wertlos, wenn nicht gar konkret verwirrend“ werden ließen. Stattdessen plädierten Cooke und Coca dafür, einfach den Begriff ,Überempfindlichkeit* zu benutzen, der, wie sie erklärten, in der Literatur über die Anaphylaxie bereits allgemein üblich wäre.

Zeitgenössische Autoren stellten Pirquets Auffassung der Serumkrankheit und seine Betonung der Rolle von Antikörpern (und, daraus folgernd, die Rolle der körperlichen Reaktionsfähigkeit) bei der Pathogenese menschlicher Erkrankungen gleichfalls infrage. In einer kurze Untersuchung von Immunseren, die 1908 von dem deutschstämmigen und am Gesundheitsamt von New York City tätigen Bakteriologen Charles F. Bolduan (*1873) veröffentlicht worden war, wurden Versuche an Meerschweinchen erörtert, die darauf hinwiesen, dass Pirquets und Schicks Theorie der Serumkrankheit als direkte Folge einer Interaktion von Antigen und Antikörper „unhaltbar“ wäre.

Auch Cooke und Coca hatten Zweifel an Pirquets Erklärung der Serumkrankheit. Sie zitierten Studien, die nicht in der Lage gewesen wären, irgendeinen Zusammenhang zwischen Krankheitssymptomen und Vorhandensein oder Abwesenheit von „spezifischen Präzipitinen“ oder „Antigenen“ im Blut nachzuweisen. Indem sie behaupteten, diese fehlende Beziehung „genüge schon, um Pirquets Theorie zu stürzen“, beharrten Cooke und Coca darauf, die Serumkrankheit könne nicht mit der Anaphylaxie verglichen werden.

Gelegentlich reagierte Pirquet auf solche Angriffe und unterzog die widerstreitenden Theorien einer sorgfältigen Einschätzung. So wies er 1911 darauf hin, Richets Annahme, Immunität und Überempfindlichkeit gegen ein bestimmtes Gift würden von „zwei verschiedenen Substanzen“ erzeugt, wäre reine Spekulation, da „bislang das selbstständige Vorkommen dieser beiden hypothetischen Substanzen nicht nachgewiesen wurde“.

Pirquet war sich jedoch sehr wohl bewusst, dass seine eigene Arbeit über die Analogien von Serumkrankheit, Vakzination und Infektionskrankheiten „unbeachtet blieb“ und dass „der Kernpunkt der Theorie, die Differenz bei der Reaktionszeit, von vielen Wissenschaftlern nicht verstanden wurde“. Pirquets Einschätzung scheint richtig gewesen zu sein. Während die Vorstellung von der Allergie, oder genauer die Rolle der Reaktionsfähigkeit des Wirtes, in vielen Untersuchungen der experimentellen Physiologie und der klinischen Pathologie marginal blieb, erfuhr im Gegenzug dazu das Interesse an der Anaphylaxie eine Blütezeit. Im Laufe der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erschienen in vielen Sprachen mehr und mehr Artikel und Bücher über die Anaphylaxie. Zusätzlich fiel zeitgenössischen Autoren sowohl in Europa als auch in Nordamerika auf, dass Anaphylaxie „gegenwärtig zu einem der bekanntesten wissenschaftlichen Begriffe“ geworden war. Obwohl Wissenschaftler und Arzte die Wichtigkeit der Anaphylaxie „für die Pathologie“ anerkannten, fiel ihnen zugleich damit auf, wie sehr der Begriff die öffentliche Meinung beschäftigte. Er war, so schrieb 1919 der russischstämmige Immunologe Alexandre Besredka, „ziemlich modern“ geworden.

Das systematische Ignorieren von Pirquets Überlegungen zur biologischen Reaktionsfähigkeit war nicht von Dauer, denn die Zeiten schienen sich gerade zu ändern, als Richet (und nicht Pirquet) 1913 den Nobelpreis für seine experimentelle Forschung zur Anaphylaxie bekam. Ein Jahr zuvor hatte der amerikanische Pathologe Ludvig Hektoen (1863-1951) in einem Aufsatz im Journal of the American Medical Association nicht nur die Begriffe .Anaphylaxie und .Allergie fast gleichberechtigt benutzt, sondern auch den Zusammenhang von Labor und der Praxis hervorgehoben, der für Pirquets Auffassung einer veränderten Reaktionsfähigkeit zentral gewesen war.

Vier Jahre später, in einem Artikel über die prophylaktische Vakzination gegen Heuschnupfen in der Lancet, gebrauchte B. P. Sormani, ein Lehrbeauftragter für Serologie in Amsterdam, Allergie ebenfalls kurzerhand zur Bezeichnung einer „Überempfindlichkeit auf den Pollenextrakt11.57 1923 umriss Alexander Gunn Auld, ein in Schottland ausgebildeter Arzt, der Bücher über die Pathologie von Atemwegskrankheiten veröffentlicht hatte und später eine Monografie zum „Thema Allergie“ vorlegen sollte, die mögliche Rolle der Anaphylaxie bei der Reaktion auf Peptoninjektionen. Gleichzeitig sprach er aber auch von „Allergie“, um klinische Zustände (Heuschnupfen, Asthma, Migräne, Epilepsie, Urtikaria und andere Hautreaktionen) zu beschreiben, für die er eine Peptonimmunisierung als Behandlungsmethode vorschlug.

Verschiedene Bücher und Zeitschriftenartikeln aus den 1920er-Jahren bezeugen, dass das Wort. Allergie langsam – als geeignetere und vielleicht wohlklingendere Bezeichnung zur Beschreibung einer Anzahl experimenteller und klinischer Phänomene – das der „Anaphylaxie“ verdrängte.

Die Erschaffung eines neuen und geeigneteren klinischen Begriffes war nicht die einzige Folge von Clemens von Pirquets kluger Analyse der veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit. In erster Linie führten Pirquets Untersuchungen dazu, dass genauer bestimmte Hautreaktionen auf Bakterien und ihre Toxine zu Diagnosezwecken eingesetzt werden konnten. Indem er die Ergebnisse seiner Beobachtungen über die veränderte Reaktionsfähigkeit bei Pockenimpfungen auf die Tuberkulose übertrug, konnte er 1907 vorschlagen, eine bestimmte Hautreaktion bei der Inokulation mit Tuberkulin (oder „die Tuberkulinprobe“) anzuwenden, um festzustellen, ob der Patient bereits mit dem Tuberkelbazillus in Berührung gekommen wäre oder nicht. Obwohl mit der Probe insbesondere bei erwachsenen Patienten nicht zweifelsfrei unterschieden werden konnte, ob es sich um eine alte oder eine akute Ansteckung handelte, beharrte Pirquet darauf, dass der Hauttest dem später von Albert Calmette (1863-1933) eingeführten Augentest vorzuziehen wäre. Auch wäre die Probe bei der Vorbeugung wichtig, da sie aufdecken könnte, welche Kinder in Krankenhäusern und Schulen tuberkulös wären und daher isoliert werden müssten.

Pirquet war zurecht stolz auf den von ihm so benannten „Allergietest“ für Tuberkulose. Wie er in einer 1927 veröffentlichten historischen Einführung in das Gebiet der Allergologie betonte, wurde das „praktisch wichtigste Resultat, die kutane Tuberkulinreaktion, […] von den Kinderärzten der ganzen Welt in demselben Sinne verwendet, wie [er] sie damals angegeben hatte“. Obwohl es Mitte des 20. Jahrhunderts wiederholt Diskussionen über die genaue Rolle (und auch Art) der Überempfindlichkeit beim Entstehen von Immunität gegen Tuberkulose gab, wurde Pirquets Probe Standard und diente als Modell für die Entwicklung ähnlicher Tests für andere Krankheiten wie Diphtherie, Rotz und Aktinomykose.

Pirquets Allergieauffassung hatte noch andere theoretische und praktische Folgen. Indem er einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Prozessen der Immunität und der Überempfindlichkeit annahm, weckte er ein erneutes Interesse an den mutmaßlich die Symptome und den Krankheitsverlauf bestimmenden körpereigenen Abwehrkräften. So trug seine Allergieauffassung dazu bei, konzeptuelle als auch praktische Verbindungen zwischen Immunologie und Medizin bzw. zwischen Immunologie und Pathologie aufrechtzuerhalten, zu einer Zeit, als die wachsende Konzentration auf die immunbiologische Analyse von Antigenen und Antikörpern wirksam zu einer Trennung von Labor und Praxis führte. Der dänische Immunologe und Nobelpreisträger Niels Jerne (1911-1994) meinte viele Jahre später, als direkte Folge der Untersuchungen der „Vakzination, Allergie und serologischen Diagnose besaß die Immunologie eine geheime Verbindung zur Medizin, die der Ausgleich für ihre Isolation war“.

Die ökologische und biologische Ausrichtung von Pirquets Gedanken zur veränderten Reaktionsfähigkeit lieferte auch den gedanklichen Rahmen, in dem die Allergie und später die Autoimmunität als Spezialgebiete der klinischen Praxis und wissenschaftlicher Studien in Erscheinung treten konnten. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die veränderte immunologische Reaktionsfähigkeit – egal ob man sie als Allergie, Anaphylaxie oder Überempfindlichkeit bezeichnete – Teil der Pathogenese von Heuschnupfen, Asthma, Urtikaria (oder Nesselsucht), von Ekzemen (ein dem Griechischen entlehnter Begriff, der wortwörtlich ,überkochen oder ,ausbrechen1bedeutete), von Nahrungsmittelidiosynkrasien, Überempfindlichkeit gegen Aspirin oder andere Medikamente, von Reaktionen auf Bienenstiche, von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und einer Reihe von uneindeutigen klinischen Symptomen, ein-schließlich Rheuma, Eklampsie, Migräne und Epilepsie. Es gab mehr und mehr Untersuchungen zur Rolle von Allergien bei menschlichen Krankheiten, und medizinische Fachautoren wiesen immer öfter darauf hin, dass diese verschiedenen Leiden vergleichbare pathologische Züge hätten und dass einzelne Patienten nicht selten an mehr als nur einer Körperstelle Symptome aufweisen würden. Mit pathologischer Blickrichtung wurde von der Forschung nahegelegt, dass Eosinophilie (ein Übermaß bestimmter weißer Blutkörperchen) und eine verstärkte Durchlässigkeit der Kapillargefäße häufig Anzeichen für Krankheiten wären, die man als anaphylaktisch oder allergisch auffassen könnte.67 Was multiple Symptome anging, so wiederholten die Autoren beständig die Vermutung, es bestünden Verbindungen zwischen Asthma, Heuschnupfen und verschiedenen dermatologischen und Magen-Darm-Allergiereaktionen. So enthüllten klinische Studien einerseits, dass Patienten mit Asthma viel anfälliger für Ekzeme, Urtikaria und Heuschnupfen waren.68 Andererseits sahen Medizinautoren Heuschnupfen nicht nur grundsätzlich als eine an anderer Stelle auftretende Form von Asthma an, sondern fassten auch die „Schleimkolik als „Unterleibs oder „Dickdarmasthma auf und nannten die „Migräne“ eine Art „Nervenasthma“.

Laut Anne Marie Moulin „entsprang“ Pirquets Allergieauffassung „den Untersuchungen der unvorhersehbaren Folgen der Immunisierung“. Daher hätten „in der Immunologie, die die Vorstellung einer kollektiven Immunisierung gehegt hatte, auch die Ansichten zu körperlichen Idiosynkrasien gesteckt“. Später, unter Berücksichtigung der Hauptsymptome bei der Pathogenese von Allergien, trauten sich Kliniker und Wissenschaftler, eine Gruppe von unterschiedlichen Idiosynkrasien unter einem Überbegriff zusammenzufassen. So wurde angenommen, dass Asthma, Heuschnupfen, Urtikaria, Ekzeme und andere Leiden eine gemeinsame Pathologie und Ätiologie hätten und auf die-selbe Weise zu prognostizieren und in vielen Fällen auch ähnlich zu kurieren wären. Obwohl man sie manchmal für „toxische Idiopathien“, das „Asthmasyndrom“ oder eine „exudative Diathesis“ hielt, wurden diese Leiden immer häufiger als „allergische Leiden“ bezeichnet.74 Auf diese Art begründete die allmähliche Annahme von Clemens von Pirquets Allergiebegriff eine neue Kategorie von Krankheiten.