Start Frauengesundheit Endometriose, Vulvodynie & Co: Der lange Weg zur richtigen Diagnose

Endometriose, Vulvodynie & Co: Der lange Weg zur richtigen Diagnose

12

Chronischer Schmerz im Intimbereich

Was wäre, wenn selbst das Tragen von Unterwäsche weh tut? Wenn das Sitzen zur Qual wird und Fahrradfahren unmöglich erscheint? Für viele Menschen mit chronischen gynäkologischen Schmerzen ist das keine Ausnahme – sondern Alltag. Für sie bedeutet Schmerz nicht nur eine medizinische Herausforderung, sondern eine ständige Bedrohung der Lebensqualität, der Intimsphäre und der Selbstbestimmung.

Besonders betroffen sind Frauen mit Endometriose oder Vulvodynie – zwei Erkrankungen, die kaum sichtbare, dafür aber tief spürbare Spuren hinterlassen. Jede zehnte Frau in den USA leidet statistisch gesehen an einer dieser beiden Diagnosen – doch viele Betroffene bleiben jahrelang ohne klare Erklärung, ohne Therapie und oft: ohne Glauben an ihre eigene Wahrnehmung.

„Ich wurde behandelt, als sei mein Schmerz eingebildet“

Die eigentliche Tragödie beginnt oft nicht mit dem Schmerz selbst – sondern mit der Reaktion darauf. Frauen, die wegen ständiger Schmerzen im Genitalbereich medizinische Hilfe suchen, erleben regelmäßig Gaslighting – also eine subtile, aber tiefgreifende Form des Zweifelns, Verharmlosens und Abwinkens.

Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2024 zeigt, wie verbreitet dieses Muster ist:

Fast jede zweite Patientin mit Vulva- oder Vaginaschmerzen wurde von Ärzt:innen dazu aufgefordert, „einfach mal zu entspannen“

Rund 40 Prozent fühlten sich sogar „verrückt“ gemacht

Mehr als die Hälfte dachte ernsthaft darüber nach, die Suche nach medizinischer Hilfe ganz aufzugeben

Die Botschaft, die viele mitnehmen, ist erschütternd: „Es ist alles nur in deinem Kopf.“

Zwischen Scham, Suche und sozialem Schweigen

Chronischer Schmerz an einer Stelle des Körpers, über die öffentlich kaum gesprochen wird, bringt eine besondere Art von Einsamkeit mit sich. Viele Frauen wissen lange Zeit selbst nicht, wie sie über ihre Beschwerden sprechen sollen. Manche schämen sich. Andere befürchten, nicht ernst genommen zu werden – oft zu Recht.

Hinzu kommt: Auch medizinisch ist vieles noch unklar. Studien zeigen, dass viele Patientinnen mit Vulvodynie oder ähnlichen Beschwerden zahlreiche Fachärzt:innen aufsuchen, ohne je eine konkrete Diagnose zu erhalten. Das frustriert – und macht hilflos.

In ihrer Verzweiflung wenden sich viele an Onlineforen, etwa auf Reddit, um Rat, Trost und Informationen zu finden. Dort erzählen sie einander, was sie durchmachen – was sie sich von ihren Ärzt:innen gewünscht hätten. Es entstehen digitale Räume des Vertrauens, weil die realen manchmal versagen.

„Ich kann endlich Hosen tragen – ohne Schmerz“

Und doch gibt es sie: die Geschichten von Hoffnung. Von Frauen, die nach Jahren voller Rückschläge doch noch Hilfe finden. Eine Patientin berichtete, dass Geschlechtsverkehr sich für sie „anfühlte, als würde jemand versuchen, das empfindlichste Körperteil ihres Körpers auseinanderzureißen“. Nach einer erfolgreichen Therapie konnte sie das erste Mal wieder normale Kleidung tragen, ohne Schmerzen. „Ich wusste gar nicht mehr, wie sehr mich dieser Schmerz belastet hat – bis er plötzlich weg war.“

Diese Aussagen machen deutlich: Es geht nicht um Sensibilität oder Einbildung. Es geht um reale, belastende Schmerzen – und um eine Gesundheitsversorgung, die zu oft zu spät reagiert.

Warum viele Ärzt:innen (noch) nicht helfen können

Das Problem ist vielschichtig. Zum einen fehlt es in der medizinischen Ausbildung oft an Wissen über frauenspezifische Schmerzdiagnostik. Vieles, was mit Vulva, Vagina oder Menstruation zu tun hat, wird noch immer nicht als ernstzunehmendes medizinisches Thema betrachtet, sondern als „normale Frauenbeschwerden“ abgetan. Hinzu kommt, dass viele Studien über Jahre hinweg nur an männlichen Probanden durchgeführt wurden – mit verheerenden Folgen für die Diagnostik bei Frauen.

Doch auch gesellschaftlich fehlt es an Offenheit. Schmerzen im Intimbereich sind nach wie vor ein Tabu. Frauen sollen funktionieren, lächeln, leisten – nicht klagen. Und schon gar nicht über etwas so Persönliches sprechen.

Was sich ändern muss – und was Betroffene jetzt tun können

Es braucht mehr als neue Medikamente oder technische Diagnostik. Es braucht eine neue Haltung: in der Medizin, in der Öffentlichkeit, in den Beziehungen zwischen Ärzt:innen und Patient:innen. Wer von Schmerzen spricht, muss gehört werden. Wer Hilfe sucht, sollte nicht erst durch ein Labyrinth aus Schuldgefühlen, Zweifeln und Resignation gehen müssen.

Auch wenn die Hürden groß sind: Viele finden Hilfe – oft durch spezialisierte Schmerzambulanzen, interdisziplinäre Therapieansätze oder durch Ärzt:innen, die sich bewusst Zeit nehmen und offen bleiben. Es lohnt sich, weiter zu suchen – und nicht zu schweigen.

Unsichtbarer Schmerz, ungehörte Stimmen – Wie medizinisches Gaslighting Frauen im Stich lässt

Stell dir vor, du hast Schmerzen – täglich, quälend, entwürdigend. Du suchst Hilfe, erzählst ehrlich, was du fühlst. Und erhältst zur Antwort: „Das ist nichts Körperliches. Wahrscheinlich Stress.“ Für viele Frauen ist das keine Ausnahme, sondern bittere Realität. Denn sie erleben, was die Forschung mittlerweile einen eigenen Namen gibt: medizinisches Gaslighting – die systematische Abwertung und Ignorierung realer Symptome durch medizinisches Personal.

Dieses Phänomen ist kein Missverständnis, sondern Ausdruck eines tiefer liegenden Problems: einer Gesundheitsversorgung, die weiblichen Schmerz oft nicht ernst nimmt – weil er nicht ins gewohnte Raster passt.

Die Ursprünge eines gefährlichen Musters

Die Wurzeln des Gaslighting reichen weit in die Medizingeschichte zurück. Schon im 19. Jahrhundert galten Frauen, die über körperliche Beschwerden klagten, als hysterisch. Der Begriff „Hysterie“ selbst stammt vom griechischen Wort für Gebärmutter – als ob Schmerz und Psyche bei Frauen automatisch verwoben seien.

Freud und seine Kollegen prägten die Vorstellung, dass sexuelle Schmerzen durch verdrängte Komplexe entstünden. Statt den Körper zu untersuchen, wurde in der Seele gewühlt. Diese Vorstellungen sind überholt – und dennoch wirken sie nach. Bis heute werden Unterleibsschmerzen, Menstruationsbeschwerden oder Vulvaschmerzen häufig bagatellisiert, als emotional abgestempelt oder gar nicht erst richtig erfasst.

Wenn Ignoranz krank macht: Die Folgen für Körper und Psyche

Wer mit chronischem Schmerz lebt, leidet ohnehin. Aber wer zusätzlich das Gefühl hat, nicht geglaubt zu werden, leidet doppelt. Viele Patientinnen berichten von einem tiefgreifenden Vertrauensverlust – nicht nur in einzelne Ärzt:innen, sondern in das gesamte Gesundheitssystem.

Einige ziehen sich zurück, sprechen nicht mehr über ihre Beschwerden. Andere zweifeln irgendwann an sich selbst: „Stelle ich mich vielleicht wirklich an?“ Diese Spirale kann gravierende psychische Folgen haben – von depressiven Verstimmungen über Angststörungen bis hin zu posttraumatischen Symptomen.

Der Schmerz wird so nicht nur körperlich chronisch – sondern auch seelisch.

Jahrelange Odyssee bis zur Diagnose

Erkrankungen wie Endometriose oder Vulvodynie sind typisch für diese Problematik. Die eine betrifft das Gewebe außerhalb der Gebärmutter, die andere verursacht brennende, stechende Schmerzen im Intimbereich – oft ohne sichtbare Befunde. Doch beide Erkrankungen haben eines gemeinsam: Viele Betroffene suchen jahrelang Hilfe – und werden immer wieder abgewiesen.

Studien zeigen: Die durchschnittliche Zeit bis zur Endometriose-Diagnose liegt bei sieben bis zehn Jahren. Zehn Jahre, in denen Frauen lernen, mit Schmerzen zu leben – und mit Schweigen.

Eine Frage des Geldes – und der Prioritäten

Doch warum ist die Forschungslage so schlecht? Die Antwort ist unbequem: Frauenkrankheiten werden systematisch unterfinanziert. Ein Bericht der National Academies bestätigte 2024, dass Erkrankungen, die überwiegend Frauen betreffen, deutlich weniger Forschungsgelder erhalten als solche, die hauptsächlich Männer betreffen.

Diese Schieflage hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verbessert – im Gegenteil. Und während milliardenschwere Programme für „männlich“ gelabelte Erkrankungen wie Herzinfarkte oder Prostatakrebs gefördert werden, wurde die Women’s Health Initiative – eines der wichtigsten Forschungsprogramme zur Frauengesundheit – 2024 fast gestrichen.

Das ist keine medizinische Notwendigkeit, sondern ein politisches Versäumnis. Und es betrifft Millionen.

Mehr Diskriminierung, weniger Therapie: Wenn Herkunft den Zugang bestimmt

Doch nicht alle Frauen sind gleichermaßen betroffen. Für Frauen mit nicht-weißer Hautfarbe, mit Migrationsgeschichte oder geringem Einkommen verschärft sich das Risiko, übersehen zu werden.

Eine Studie aus dem Jahr 2016 zeigte: Viele weiße Medizinstudierende glaubten an völlig falsche Annahmen über Schwarze Patient:innen – etwa, dass sie weniger schmerzempfindlich seien. Die Folge: falsche Diagnosen, unzureichende Therapie, im schlimmsten Fall: unterlassene Hilfeleistung.

Auch in Notaufnahmen bekommen Frauen seltener Schmerzmittel als Männer – selbst wenn sie identische Symptome schildern. Stattdessen wird ihnen häufiger eine psychologische Betreuung empfohlen. Und das gilt auch, wenn die behandelnden Ärztinnen selbst weiblich sind.

Was muss sich ändern? Und was kannst du selbst tun?

Veränderung beginnt in den Hörsälen – mit einer medizinischen Ausbildung, die endlich lernt, zuzuhören. Studierende müssen sensibilisiert werden für Geschlechterunterschiede in der Schmerzverarbeitung, für gesellschaftlich verankerte Vorurteile – und für das, was sie (noch) nicht wissen.

Gleichzeitig können auch Patient:innen selbst aktiv werden. Wissen ist Macht. Bücher wie „When Sex Hurts“, Fachartikel der International Society for the Study of Vulvovaginal Disease oder Informationsseiten von Endometriose-Organisationen helfen, Symptome besser zu verstehen – und Gespräche mit Ärzt:innen gezielter zu führen.

Organisationen wie die National Vulvodynia Association, die Endometriosis Association oder Tight Lipped bieten nicht nur Austausch, sondern konkrete Hilfe – zum Beispiel Listen mit spezialisierten Fachpersonen.

Fazit: Schmerzen sind real – und verdienen Gehör

Der vielleicht größte Schmerz ist nicht der körperliche. Es ist das Gefühl, mit seinem Leiden allein zu sein. Nicht ernst genommen zu werden. Infrage gestellt zu werden.

Doch das Schweigen bricht langsam auf. Immer mehr Betroffene sprechen. Immer mehr Ärzt:innen hören zu. Es ist Zeit, die Geschichte weiblichen Schmerzes neu zu schreiben – mit mehr Empathie, mehr Forschung und einer Medizin, die endlich allen Körpern gerecht wird.

FAQ

Was ist medizinisches Gaslighting?

Medizinisches Gaslighting bezeichnet die Situation, in der Ärztinnen oder Ärzte die Beschwerden von Patientinnen nicht ernst nehmen, sie herunterspielen oder als „psychisch bedingt“ abtun – oft ohne gründliche Untersuchung. Betroffene fühlen sich dadurch unverstanden, übergangen oder gar verrückt gemacht.

Warum sind besonders Frauen betroffen?

Historisch wurden weibliche Schmerzen häufig als übertrieben, emotional oder „hysterisch“ eingestuft. Diese veralteten Vorstellungen wirken bis heute in der Medizin nach – vor allem bei Krankheiten wie Endometriose oder Vulvodynie, die schwer zu diagnostizieren sind und noch immer wenig erforscht werden.

Welche Erkrankungen stehen im Zusammenhang mit medizinischem Gaslighting?

Häufig betroffen sind chronische gynäkologische Erkrankungen wie Endometriose, Vulvodynie, Adenomyose oder schmerzhafte Menstruationsstörungen. Diese Krankheiten verlaufen oft unsichtbar, was dazu führt, dass Beschwerden über Jahre hinweg nicht ernst genommen oder falsch behandelt werden.

Welche Rolle spielen Rassismus und soziale Herkunft?

Studien zeigen, dass Frauen mit nicht-weißer Hautfarbe oder aus sozial benachteiligten Gruppen häufiger ignoriert, schlechter behandelt oder medizinisch benachteiligt werden. Falsche Annahmen über Unterschiede im Schmerzempfinden führen dazu, dass ihre Symptome oft unterschätzt oder fehldiagnostiziert werden.

Welche Folgen hat medizinisches Gaslighting für die Betroffenen?

Neben der körperlichen Belastung kann Gaslighting zu schwerwiegenden psychischen Folgen führen – etwa zu Depressionen, Angststörungen oder einem generellen Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem. Viele meiden nach negativen Erfahrungen weitere Arztbesuche, obwohl Hilfe dringend notwendig wäre.

Was kann ich als Betroffene tun?

Informiere dich über deine Symptome und suche gezielt nach spezialisierten Fachärztinnen und Fachärzten. Tausche dich mit anderen Betroffenen aus, etwa über Organisationen wie die Endometriosis Association oder die National Vulvodynia Association. Bücher wie „When Sex Hurts“ oder Plattformen wie „Tight Lipped“ können dir helfen, deine Beschwerden besser zu verstehen und dich für eine angemessene Behandlung stark zu machen.

Was muss sich in der Medizin verändern?

Es braucht mehr Forschung zu frauenspezifischen Erkrankungen, mehr Aufklärung im Medizinstudium über geschlechterspezifische Unterschiede im Schmerzempfinden und mehr Zeit für echte Arzt-Patientin-Gespräche. Eine gute Medizin beginnt mit Zuhören – und mit dem Glauben an das, was Patientinnen fühlen.

Informationsquelle: who . int